01.11.2004

Stefan Stirnemann

Anekdote

Vor Jahren wallfahrteten drei Wissenschaftler nach Delphi zum Orakel. Es war noch ein Esel dabei, der schwere Wörterbücher schleppte: Weihegaben für Apoll.

Sie nannten sich mit giftigem Zischlaut „Germanisten“ und hatten in langen Berufsjahren das Restlein Sprachgefühl, mit dem sie einst antraten, in sich abgetötet. Einer war Inhaber eines Lehrstuhls, zwei noch nicht, und da die beiden schon angejahrt waren und ihre Dummheit das dem Amt und Vorwärtskommen dienliche Maß besorgniserregend überschritt, schrien sie nächtens in Alpträumen; sie fürchteten, nie einen Ruf zu erhalten und verhungern zu müssen. Vor Schlaflosigkeit erkrankte der Esel an den Nerven. Die Pilger wollten, da sie sonst nichts konnten, die Rechtschreibung vereinfachen, und Apoll sollte ihnen den Erfolg voraussagen.

Der Gott des Lichtes, des Heilens, der Kunst und der Pest ließ ihnen drei Sätze ausrichten. Im ersten unterschlug er weislich das Komma: „Ich rate euch nicht zu beginnen.“ Beim zweiten sparte er die Konjunktion ein („aber“ oder „denn“?): „Ihr werdet durch lange Weile nicht vollen Erfolg haben und am Ende alle überzeugen.“ Der dritte Satz: „Die Wörterbücher könnt ihr wieder mitnehmen.“

Die Pilger fühlten sich bestärkt und reisten zurück: die Nächte waren nun ruhig. „Wenn nur die Bücher nicht so schwer wären,“ klagte der Esel; er arbeitete sonst geruhsam in einem Bildungsministerium. Am dritten Tag, in der Mittagshitze (sie hatten sich verirrt und waren statt nach Athen nach Arkadien geraten), streckte plötzlich Pan sein struppiges Haupt hinter einem Felsen hervor, der stachlige Fichtenkranz saß schief. „Bäh!“ rief der Hirtengott – und die Wallfahrer stoben davon, unheilbar erschrocken und verworren. Pan hatte sie eigentlich warnen wollen: „Ihr müsset nochmals nach Delphi und fragen, wovon ihr alle überzeugen werdet!“ – aber niemand war mehr da, die Warnung zu hören. Alles, was den Reformern von Pan im Ohr blieb, war der Umlaut: „Äh!“ Da lachten die Göttinnen und Götter auf ihrem Berg ein olympisches Lachen; am lautesten lachten Ares und Aphrodite.




Die Quelldatei zu diesem Ausdruck finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=thorheiten&id=25