30.11.2011


Rechtschreibreform produziert Analphabeten

Ein Kommentar von Dankwart Guratzsch

Ausgerechnet Hans Zehetmair beklagt, dass jeder Fünfte unter den 15-Jährigen Analphabet ist. Dabei ist er einer der Verantwortlichen für die Rechtschreibreform.

Die deutsche Rechtschreibung ist in verheerendem Zustand. Das sagt ausgerechnet Hans Zehetmair, seines Zeichens Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung und einer der Verantwortlichen für die Rechtschreibreform. Seit sieben Jahren steht er diesem Gremium vor, das eigentlich die Aufgabe hat, die neu eingeführten Schreibweisen dem Schriftgebrauch anzupassen.

Wenn er jetzt erklärt, dass mit der Orthografie "nachlässig" umgegangen werde und dass dies eine Ursache dafür sei, "dass ungefähr zwanzig Prozent eines Jahrgangs der 15-Jährigen als Analphabeten gelten müssen", kommt dies einer Bankrotterklärung gleich.

Zur Begründung der Rechtschreibschwächen verwies er auf "Schwierigkeiten, die bereits in der Vermittlung von Rechtschreibung liegen". Aber genau diese Schwierigkeiten hatten ja durch die Reform behoben werden sollen. Nun aber stellt sich heraus, dass offenbar nicht einmal die Lehrer mehr mit den Ungereimtheiten des neuen Regelwerks zurechtkommen. Denn, so Zehetmair: "Didaktisch an die jeweiligen Jahrgangsstufen angepasste Konzepte sind rar, oftmals wird der betreffende Sachverhalt eins zu eins aus dem amtlichen Regelwerk in die Schulbücher kopiert."

Ein Regelwerk, das nicht vermittelbar ist, kann aber zu einer Erleichterung niemals beitragen. Fachleute wie Theodor Ickler und Horst Haider Munske, Institutionen wie die Forschungsgruppe Deutsche Sprache und die Konferenz der Schweizer Erziehungsdirektoren hatten von Anfang an darauf hingewiesen – sie wurden überhört. Lange vor Stuttgart 21 waren es Bürgerinitiativen in ganz Deutschland gewesen, die die Reform zu verhindern versucht hatten. Sie wurden ausmanövriert.

Als das Kind in den Brunnen gefallen war, legte der Leipziger Linguist Harald Marx, Professor für Pädagogische Psychologie und Dekan der Universität Leipzig, das Ergebnis von Schreibversuchen vor. Sie legten zweifelsfrei offen, dass die neuen Schreibweisen fehlerträchtiger als die alten sind – niemand, auch Zehetmair nicht, schenkte ihm Beachtung.

Inzwischen sind zwei "Reformen der Reform" über die deutsche Schreibwelt hinweggegangen. Längst haben sich auch die Medien aus dem Schreibkonsens verabschiedet und eigene Schreibweisen eingeführt. Aus einem geordneten System ist ein behördlich angerichtetes und sanktioniertes Chaos geworden. Wenn Zehetmair nun erklärt: "Der Rat für deutsche Rechtschreibung unterstützt Bemühungen, die sich für einen bewussten Umgang mit der deutschen Rechtschreibung einsetzen," so klingt es in den Ohren derer, die genau dieses Fiasko hatten abwenden wollen, wie Hohn. Es wäre ehrlicher, das Scheitern einzugestehen und zurückzutreten.

feuilleton@welt.de

Quelle: Die Welt
Link: http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article13742767/Rechtschreibreform-produziert-Analphabeten.html

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