03.04.2011 Stefan Stirnemann Die Reform der deutschen Rechtschreibung und die deutsche orthographische LexikographieBetrachtung zum falschen IndikativMit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber veröffentlichen wir hier den Artikel, der Ende 2010 in „Cahiers de lexicologie“ Nr. 97, S. 55–66 erschienen ist.(Hinweise: Dieser Beitrag ist technisch noch nicht ganz fertiggestellt; das französiche Abstract findet sich im Anschluß an die Fußnoten. – Red.) Dem Andenken an Jean-Marie Zemb (1928–2007) Einleitung Am Anfang jeder Abhandlung zur Rechtschreibreform muß der Hinweis stehen, daß ihre Auftraggeber, die deutschen Kultusminister, dieses mißratene Unternehmen unterdessen verwerfen und dennoch an ihm festhalten. Ministerin Wanka, die im Jahr 2005 Präsidentin der Kultusministerkonferenz war, sagte: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.» Der Spiegel (1/2006 : 132) Schon vierzehn Jahre währt die Reform der deutschen Rechtschreibung. In dieser Zeit sind so viele orthographische Wörterbücher erschienen wie nie zuvor in der Geschichte der lesenden Menschheit. Jedes dieser Bücher fiel seinem Vorgänger ins Wort und widersprach ihm. Bevor die Neuregelung sich selber widersprach, widersprach sie der Sprachwirklichkeit und den Schreibgewohnheiten des Deutschen, die sich in einer langen Entwicklungsgeschichte ausgebildet und bewährt haben. Als Beispiel führe ich einen Aphorismus Georg Christoph Lichtenbergs an, der im Jahre 1800 veröffentlicht wurde: «Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun.» G. Lichtenberg (1800 : 17) Die Wendungen es tut mir weh, es tut mir leid standen in den Wörterbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit Beginn der Rechtschreibreform aber wurde für es tut mir leid plötzlich der große Buchstabe vorgeschrieben: Es tut mir Leid. Das ist keine äußerliche Veränderung, das ist eine Verletzung des Sprachgefühls. Und wenn es tut Leid geschrieben werden soll, warum nicht auch es tut Weh? Die absurde Vorschrift hatte Bestand in den Jahren 1996 bis 2004. Dann war zwei Jahre lang neben dem reformierten großen Buchstaben der herkömmliche kleine als Variante richtig. Seit 2006 ist der große Buchstabe wieder falsch. Alle diese Widersprüche erfolgten im kaltblütigen Indikativ, und Begründungen mußte man suchen. Der arglose Leser eines Rechtschreibwörterbuches nimmt an, daß ihm im Indikativ das gezeigt und erklärt wird, was allgemein üblich ist, so daß er dem Schreibgebrauch folgen kann. Seit Beginn der Rechtschreibreform aber wird mit dem Indikativ nicht mehr der Usus erfaßt, sondern vorgeschrieben, was ihm widerspricht und so hinfällig ist, daß es von Jahr zu Jahr geändert werden muß. Mit diesem falschen Indikativ, dem Indikativ der Rechtschreibreform, hat die deutsche orthographische Lexikographie ihren Ruf verspielt. Sie hat sich wirtschaftlichen und politischen Vorgaben gebeugt, und es wird lange dauern, bis Ordnung und Vertrauen wiedergewonnen sind. Jean-Marie Zemb hat die Rechtschreibreform von Anfang an sachkundig und treffsicher kritisiert. Darüber hinaus war er ein großer Vermittler zwischen zwei reichen Sprachwelten. Ihm ist diese Betrachtung gewidmet. 1. Die Rechtschreibreform im Überblick «Aber man mache sich nichts vor. Diese Rechtschreibreform ist zu einem großen Teil Unfug.» J.-M. Zemb (1995 : 28) Die Vorgeschichte der Neuregelung muß bis ins 19. Jahrhundert verfolgt werden; Wolfgang Kopke hat sie dargestellt. Für umfassende Untersuchungen zu allen Aspekten der Neuregelung sei auf die Darstellungen Theodor Icklers verwiesen. Empfohlen seien auch die Untersuchungen Horst Haider Munskes.(1) 1.1. Das Prinzip und das Problem Einer der Reformer nannte das Prinzip: «Anliegen der Neuregelung ist es, Vereinfachung durch Systematisierung zu erreichen.» Bertelsmann (1996 : Vorwort) Dank dieser Systematisierung sollte der sogenannte Wenigschreiber weniger Fehler machen und eine auftretende Unsicherheit mit Hilfe einer einfachen Überlegung selbständig überwinden können. Offenbar eine Folge dieser Systematisierung war, daß er heißersehnt in zwei Wörtern schreiben sollte (heiß ersehnt), da, wie eine der neuen Regeln festlegte, «das dem Partizip zugrunde liegende Verb vom ersten Bestandteil getrennt geschrieben wird». Duden (1996 : 876) Tatsächlich dürfte das Verb heißersehnen nicht belegt sein. Und doch taugt die Regel nichts, wie die Sprachwirklichkeit, ein Satz Erich Kästners, beweist. Kästner schildert in einem harmlosen Wortspiel die Schwierigkeiten, welche in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 das wiederholte Abschalten des Stromes mit sich brachte: «Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande.» E. Kästner (1998: 313) Es liegt auf der Hand, daß mit der Getrenntschreibung (die heiß ersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln) der Satz sinnlos wird. Wie kam es zu diesem Fehlgriff der verantwortlichen Wissenschaftler? Sie hatten das adjektivische Eigenleben der Partizipien übersehen, und sie hatten die Wirkung ihrer Regeln nicht geprüft. Horst Haider Munske: «Eine systematische Überprüfung, wie sich Reformvorschläge auf den gesamten Wortschatz auswirken, fand nirgends statt – nicht zuletzt wegen fehlender Mittel. Die Unausgegorenheit und Fehlerhaftigkeit vieler neuer Regeln wurde erst 1996 in den neuen Wörterbüchern sichtbar.» H.H. Munske (2005a : 15) Munskes Urteil hat besonderes Gewicht, weil er als Mitglied verschiedener Kommissionen an der Neuregelung beteiligt war. Er gab sein Amt ab, als die politischen Instanzen die nötigen Verbesserungen verhinderten (vgl. H.H. Munske 2005a : 46 ff). Das Grundproblem dieser Reform ist also, daß sie Wörter, Wendungen und Sätze einer grauen Theorie unterwirft, statt sie zu nehmen, wie sie in der Sprachwirklichkeit gebildet, gesprochen und geschrieben werden. Wer ihre Regeln anwendet, läßt ungezählte Wörter und altüberlieferte Ausdrucksmittel unserer Sprache verschwinden. Daran haben alle Verbesserungsversuche bis heute nicht viel geändert. Sogar der Duden rät davon ab, alle Regeln anzuwenden: «In Fällen wie festtreten, totschlagen oder volltanken ist die (nach den Regeln nicht ausgeschlossene) Getrenntschreibung ungebräuchlich.» Duden (2006 : 54) 1.2. Die drei amtlichen Regelwerke Am 1. Juli 1996 unterzeichneten Vertreter der deutschsprachigen Staaten eine «Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung», die sogenannte Wiener Absichtserklärung. Der Kernsatz des kurzen Textes lautet: «Die Unterzeichner beabsichtigen, sich innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die Umsetzung des in Artikel I genannten Regelwerkes einzusetzen.» Staatlicher Wirkungsbereich sind die Schule und die Behörden(2) , aber es versteht sich, daß, was für die Schule gilt, auch für die Gesellschaft gelten soll. Daß nach dem ersten Regelwerk in kurzer Zeit zwei weitere nötig waren, zeugt von der Verfehltheit dieses Unternehmens und vom Widerstand, den die Gesellschaft ihm leistete. Zur Fehlerhaftigkeit der neuen Wörterbücher kam der Umstand, daß die beiden Leitwörterbücher, Duden und Bertelsmann, in zahllosen Fällen voneinander abwichen (vgl. Th. Ickler 2001 : 59 ff). 1997 wurde die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung eingesetzt. Die Kultusminister Deutschlands untersagten ihr zunächst, Korrekturen am Regelwerk vorzunehmen (vgl. Th. Ickler 1999 : 275 ff). 2004 legte die Kommission das zweite Regelwerk vor, das weitgehende Veränderungen aufwies. Im selben Jahr wurde sie durch den Rat für deutsche Rechtschreibung ersetzt, in dem auch einige Kritiker der Reform Einsitz bekamen. Bestimmend in der Ratsarbeit waren die beiden Vertreter von Duden und Wahrig(3), die aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu viele Änderungen duldeten. Neben den Reformern, die ihr Werk retten wollten, wirkten auch die Kultusminister hemmend, welche dem Rat nur einen Teil der Neuregelung zu überarbeiten erlaubten. Die Ratsmitglieder entschieden mit Zweidrittelsmehrheit. Das Ergebnis war das dritte amtliche Regelwerk (2006), das weitere Grundsätze der Reform aufgab. Hatte sich das erste Regelwerk radikal vom Usus entfernt, so näherten sich ihm die Verbesserungsversuche wieder an. Allerdings wurden die Fehler selten schlechtweg beseitigt. Sehr oft wählte man den Kompromiß, neben die fehlerhafte Schreibweise der Reform die herkömmliche als Variante zu setzen. Varianten sind das Merkmal der dritten Stufe der Neuregelung. So gelten heißersehnt und heiß ersehnt als gleichwertige Doppelformen, was nicht richtig ist. Die Regelwerke bestehen nach altem Vorbild aus einem Regelteil und einem Wörterverzeichnis. Die Regelteile sind abgedruckt in den Leitwörterbüchern der Jahre 1996, 2004/05 und 2006. 1.3. Die Teilbereiche der Neuregelung Die Neuregelung ist in sechs Teilbereiche gegliedert, ich füge in Klammern wenige Beispiele an: «Laut-Buchstaben-Zuordnungen» (neu dass statt daß, Schlusssatz oder Schluss-Satz statt Schlußsatz, schnäuzen statt schneuzen), «Getrennt- und Zusammenschreibung» (heute gilt vielsagend als Variante zu viel sagend: Sie schwieg viel sagend), «Schreibung mit Bindestrich» (der 20-Jährige), «Groß- und Kleinschreibung» (die ersten beiden, die beiden Ersten, morgen Früh als Variante zu morgen früh), «Zeichensetzung» (weglaßbares Komma: Er sah den Spazierstock in der Hand untätig zu), «Worttrennung am Zeilenende» (fast alles ist möglich: Kon-s-t-ruk-ti-vis-mus). Der Rat für Rechtschreibung durfte nur die Teilbereiche Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung, Worttrennung und einen Ausschnitt der Groß- und Kleinschreibung überarbeiten. 2. Die orthographischen Wörterbücher der Rechtschreibreform «Ein großes Provisorium legt sich übers Land.» J.-M. Zemb (1998 : 37) 2.1. Die Abfolge der Wörterbücher Wie eine Sonne von ihren Planeten, so wurden die drei Regelwerke von Wörterbüchern umschwärmt. Ich beschränke mich auf die beiden Leitwörterbücher. Eine Sonne für sich war der Duden des Jahres 2000; in ihm wurden manche der Korrekturen vorgenommen, welche die Kultusminister zunächst verhindert hatten. Der Duden erschien in den Jahren 1996, 2000, 2004, 2006. Bei Bertelsmann/Wahrig sieht die Reihe so aus: 1996, 1999, 2002, 2005, 2006. Bertelsmann zeigte die neuen Schreibweisen mit einer roten Pfeilspitze, Wahrig wählte den Blaudruck. Duden druckte die Neuerungen rot. Anders als Wahrig verzichtet er in der neuesten Ausgabe (2009) darauf, die neuen Schreibweisen kenntlich zu machen, der Rotdruck ist verschwunden. Auch den Regelteil bietet der Duden nicht mehr. So wird der Eindruck erweckt, die Schreibweisen der Neuregelung seien jetzt die allgemein üblichen. Bei den zahllosen Varianten behelfen sich Wahrig und Duden mit Empfehlungen. Im Duden ist die Form, die vorgezogen wird, gelb unterlegt. Wahrigs Empfehlungen sind in einem eigenen Buch zusammengestellt: Wahrig. Ein Wort – eine Schreibung (2006). Wahrig empfiehlt das neue Recht haben, Duden dagegen die Variante, das herkömmliche recht haben. Sie stimmen überein in der Empfehlung für das getrennte heiß ersehnt. Wir sind also so weit wie vor vierzehn Jahren, als es gemäß der Theorie nur heiß ersehnt gab. 2.2. Die Willkür der Wörterbücher In den vergangenen Jahren sind immer wieder Sätze und Redewendungen zitiert und als Argumente gegen die Neuregelung ins Feld geführt worden, meistens ohne daß die verfehlten Regeln berichtigt worden wären. Auch heute noch soll die Sprachwirklichkeit der fehlerhaften Theorie nachgeben, und die Verfasser der Wörterbücher führen auf ihren Irrwegen auch die Leser in die Irre. Ich wähle einige Beispiele aus Teilbereichen der Neuregelung, in denen das Sprachgefühl besonders lebendig und empfindlich ist. 2.2.1. Die Redewendung jemandem feind sein Die Regel, daß im Deutschen die Adjektive klein geschrieben werden, gilt natürlich auch für die prädikativ verwendeten (vgl. K. Rädle 2003 : 166 f). Im Jahre 1831 gab Karl Ferdinand Becker in der ersten Auflage seiner Schulgrammatik der deutschen Sprache eine ganze Liste solcher Eigenschaftswörter, darunter: angst, feind, gram, leid (vgl. K. F. Becker 1831 : 96). Es handelt sich also um althergebrachten Schulstoff. Das Adjektiv feind findet sich auch in Kaspar Stielers Teutschem Sprachschatz, der 1691 erschien. Im Lemma Feind / der ist die Wendung «Ich bin ihm feind /invisus mihi est» verbucht, und feind ist durch den kleinen Buchstaben und das lateinische Interpretament invisus als Adjektiv vom Substantiv unterschieden (vgl. K. Stieler 1968 : 460). Entsprechend unterschied Konrad Duden 1880 in der ersten Auflage seines Orthographischen Wörterbuchs «jemandes Feind, jemand[em] feind sein» (vgl. K. Duden 1980 : 54). Hundert Jahre lang blieb das Lemma im Duden unverändert, bis 1996 das Adjektiv im Rotdruck der neuen Schreibweise und groß geschrieben erschien: «jemandem Feind bleiben, sein, werden»; eine Erklärung aber wurde nicht beigefügt (vgl. Duden 1996 : 276). Anders Bertelsmann, der, trocken genug und im Wortlaut an Paragraph 55 (4) der Neuregelung angelehnt, erklärte: «In festen Gefügen werden Substantive [...] mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben: Er ist ihm Feind geworden.» (Bertelsmann 1996 : 381) So war es noch in der Ausgabe 2005 zu lesen, in der Neuausgabe des Jahres 2006 jedoch, nach der Revision des Rates für Rechtschreibung, hieß es ebenso trocken: «In Verbindung mit den genannten Verben gilt feind als Adjektiv. Es wird kleingeschrieben: Er ist ihm feind geworden.» Auch Duden fand zum Stand der Kenntnisse zurück, den die Schulkinder des 19. Jahrhunderts hatten. In jenen Jahren hat Theodor Ickler auf das neue Substantiv der Spinnefeind aufmerksam gemacht, das der unsinnigen Systematik der Neuregelung entsprang. Schreibt man die Wendung jemandem Feind sein, so muß man auch jemandem Todfeind oder Spinnefeind sein schreiben (vgl. Th. Ickler 1997 : 102 f). Die folgende Zusammenstellung spricht für sich.
Bemerkenswert ist der unkommentierte Wechsel vom «alt: wohlbekannt» des Jahres 2002 zum «auch: wohlbekannt» des Jahres 2005. Die ganze Willkür zeigt sich, wenn man einige Einträge im Duden vergleicht:
Das Lemma wohlverdient wurde von 1996 bis 2009 nicht verändert. Wenn Duden und Wahrig heute übereinstimmend die Zusammenschreibung wohlbekannt empfehlen, so ist das nicht eine Wahl zwischen Doppelformen, die auch anders ausfallen könnte, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung des herkömmlichen und sprachrichtigen Lemmas. 2.2.4. greulich Thomas Hürlimann erzählt in seiner Novelle Fräulein Stark, wie der Bibliothekar der St. Galler Stiftsbibliothek eine Inspektion durchführt: «Der Onkel, gewandet wie ein Tropenmissionar, weiße Soutane, weißer Hut, stürmte wenig später aus dem Saal, im Gefolge Vize Storchenbein und sämtliche Hilfsbibliothekare, alle verschwitzt, gräulich verstaubt, außer Atem, offenbar waren sie stundenlang durch die hinteren und oberen Säle gekrochen [...].» Th. Hürlimann (2001 : 85) Konrad Duden unterschied 1880 greulich (Greuel erregend) von gräulich (grau). Nach einer bis heute geltenden Vorschrift der Neuregelung muß man in beiden Fällen gräulich schreiben. Damit macht das Wörterbuch Hürlimanns Satz zweideutig. Der Autor wollte die Farbe des Staubes zeichnen. Das aber versteht nur der Leser, der bemerkt hat, daß sich Hürlimann wie viele zeitgenössische Autoren nicht an die neuen Regeln hält. 2.2.5. Wenn ich schriee Nach dem unverändert gültigen Paragraphen 19 der Neuregelung muß man ein e weglassen, wenn auf -ie die Flexionsendung -e folgt. Rainer Maria Rilke beginnt die erste seiner Duineser Elegien so: Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. R.M. Rilke (1987 : 629) Wendet man Paragraph 19 an, wie es die Wörterbücher tun (vgl. Duden [2009 : 958]), so wird aus dem Konjunktiv schriee der Indikativ schrie, und auch hörte muß den Modus wechseln und wird als Indikativ verstanden. Die Willkür des Wörterbuchs macht es dem Dichter unmöglich, zu sagen, was er sagen will. 3. Die Rechtschreibreform und die Schriftsteller «Hinzu kommt, daß in Frankreich Dichter und Schriftsteller nicht als Querulanten gelten, deren Meinung man einfach überhören kann, sondern als Seismographen der Sprache.» J.-Marie Zemb (2000 : 44) Es versteht sich, daß für Sprachbewußte diese Neuregelung in weiten Teilen unannehmbar war und ist. Von Anfang an erhoben die Autoren ihre Stimme. Der Dichter Reiner Kunze schildert im Rückblick seine Erfahrungen mit Bertelsmann: «Die Seriosität von Regeln und Schreibweisen anzuzweifeln, die ein Gremium von Sprachwissenschaftlern ausgearbeitet hatte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Im Gegenteil, als 1996 das erste Wörterbuch der ‚neuen deutschen Rechtschreibung’ erschienen war, ging ich es Seite für Seite durch – es waren 1040 – , und ich begann, Abschnitte des Regelwerks und viele der rotgedruckten Hervorhebungen im Wörterverzeichnis zu exzerpieren, um mich mit ihnen vertraut zu machen und sie mir einzuprägen. Mein Bedürfnis, mir die Neuerungen anzueignen, wich jedoch mehr und mehr dem Entsetzen vor ihnen, und als ich selbst unverzichtbare Wörter nicht wiederfand, wandte ich mich an die Öffentlichkeit.» R. Kunze (2005 : 27 f) Ernst genommen wurden die Autoren nicht. In der Dresdner Erklärung der Kultusministerkonferenz vom 24./25. Oktober 1996 hieß es: «Schriftsteller und Publizisten müssen also zur Kenntnis nehmen, daß ihre Interessen deshalb bei der Neuregelung der Rechtschreibung nicht im Vordergrund stehen, weil die neue Orthographie sich in erster Linie an den Bedürfnissen derjenigen orientiert, für welche die Regierungen unmittelbar Verantwortung tragen: die Schulen und die Behörden.» H. Zabel (1996 : 399) Die Interessen der Schriftsteller und Publizisten sind jedoch identisch mit den Interessen der ganzen Sprachgemeinschaft. Wahrscheinlich ist der Plural gar nicht nötig; in Frage steht der einfache Wunsch nach einer klaren, schönen und freien Sprache. Und wo wäre sie nötiger als gerade in den Schulen? Eigentlich sollten die Lexikographen diesen Wunsch schützen, indem sie unvoreingenommen den Wortschatz und seine Entwicklung beobachten und verbuchen. Das wäre eine schöne und schöpferische Aufgabe, die feine Augen und Ohren erforderte. Vor vierzehn Jahren aber fügten sich die Lexikographen und fügen sich bis heute dem Machtspruch der Politik, angemaßten Sprachrichtern, die jene nicht anhören wollen, welche die Sprache verstehen. Reiner Kunze dichtet: justizirrtum Die sprache erschien vor dem Hohen gericht, die richter aber verstanden nicht die sprache, die die sprache spricht, und die sie verstanden, die hörten sie nicht R. Kunze (2007 : 57) In dieser Lage haben die Autoren Österreichs einen Vertrag ausgehandelt, der es den Schulbuchverlagen im Zeichen der Freiheit der Kunst untersagt, Texte an amtliche Normen anzupassen: «Dieses Recht auf Integrität eines Kunstwerkes schließt ausdrücklich die Ablehnung ganzer Orthographiereformen oder bestimmter Teile davon ein.»(4) Auch dieser Vertrag stellt der Neuregelung ein Zeugnis aus. 4. Schluß und Ausblick Das Grundproblem hat Theodor Ickler auf den Punkt gebracht: «Die neuen Wörterbücher versäumen ihre erste Pflicht: den vorhandenen Wortschatz gewissenhaft zu verbuchen. – Dies ist ein kulturpolitisches Desaster auch im Hinblick auf die Rolle der deutschen Sprache im Ausland.» Th. Ickler (2001 : 17) Seit vierzehn Jahren lesen wir in den orthographischen Wörterbüchern den falschen Indikativ. Die Lexikographen folgen einer schlechten Theorie statt der guten Praxis des Schreibens. Auch nach mehreren Überarbeitungen widerspricht die Neuregelung dem Sprachgefühl, und die Leitwörterbücher widersprechen einander mit ihren Empfehlungen. Da kaum jemand alle zwei Jahre ein neues Wörterbuch gekauft hat, sind alle Wörterbücher der letzten vierzehn Jahre nebeneinander im Gebrauch, und nach den vielen Änderungen ist es fast unmöglich, zu wissen, was zur Zeit gilt. In den Texten der Zeitungen und Literatur werden die neuen Regeln in einer überholten Form oder gar nicht oder nur zum Teil angewendet. Die Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit der deutschen Rechtschreibung ist in Kernbereichen verlorengegangen. Wie kommt die deutsche Sprache wieder zu einem in allen Bereichen brauchbaren orthographischen Wörterbuch? Die Eingriffe des Staates müssen aufhören, und die Lexikographen müssen sich auf ihre Pflicht besinnen. Einen bedenkenswerten Versuch eines rein beschreibenden orthographischen Wörterbuchs hat Theodor Ickler 2004 in vierter Auflage vorgelegt: Normale deutsche Rechtschreibung. In der Schweiz haben sich Vertreter schreibender Berufe zur Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) zusammengefunden.(5) Mit ihren Empfehlungen möchte die SOK den Weg zur Wiederherstellung einer einheitlichen und sprachrichtigen Rechtschreibung weisen. Jean-Marie Zemb schrieb: «Der Rückweg aus Pisa führt über Canossa». (J.-M. Zemb 2004 : 60) Hoffen wir, daß dieser Weg nicht noch einmal vierzehn Jahre währt. Stefan STIRNEMANN Gymnasium Friedberg in Gossau (St. Gallen) Membre du groupe de travail de la Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) Bibliographie Die verschiedenen Ausgaben der Leitwörterbücher führe ich nicht auf. Die amtliche Regelwerke erschienen 1996, 2004, 2006 unter dem Titel Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis im Gunter Narr Verlag (Tübingen). BARTH Karl (1979) : Barth Brevier, Richard Grunow (Hg.). 2. Auflage, Zürich, Theologischer Verlag. BECKER Karl Ferdinand (1831) : Schulgrammatik der deutschen Sprache, Frankfurt am Main. DUDEN Konrad (1980) : Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache, (Faksimile der Originalausgabe, Mannheim, 1880), Mannheim, Bibliographisches Institut AG. HÜRLIMANN Thomas (2001) : Fräulein Stark, Zürich, Ammann Verlag. ICKLER Theodor (1997) : Die sogenannte Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich, 2. durchgesehene Auflage, St. Goar, Leibniz Verlag. - (1999) : Kritischer Kommentar zur «Neuregelung der deutschen Rechtschreibung», Zweite, durchgesehene u. erweiterte Auflage, Erlangen und Jena, Verlag Palm & Enke. - (2001) : Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform, St. Goar, Leibniz Verlag. - (2004a) : Rechtschreibreform in der Sackgasse. Neue Dokumente und Kommentare, ibid. - (2004b) : Normale deutsche Rechtschreibung. Sinnvoll schreiben, trennen, Zeichen setzen, 4., erweiterte Auflage, ibid. KÄSTNER Erich (1998) : « Notabene 45. Ein Tagebuch », in Werke, Franz Josef Görtz (Hg.), Band VI, München, Carl Hanser Verlag. KAFKA Franz (1994) : « In der Strafkolonie », in Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Hans-Gerd Koch (Hg.), Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag. KOPKE Wolfgang (1995) : Rechtschreibreform und Verfassungsrecht. Schulrechtliche, persönlichkeitsrechtliche und kulturverfassungsrechtliche Aspekte einer Reform der deutschen Orthographie, Tübingen, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). KUNZE Reiner (2004) : Die Aura der Wörter. Denkschrift zur Rechtschreibreform, Neuausgabe mit Zwischenbilanz, Stuttgart, Radius-Verlag. - (2007) : lindennacht. gedichte, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. LICHTENBER Georg Christoph (1800) : Georg Christoph Lichtenberg’s Vermischte Schriften, Ludwig Chr. Lichtenberg und Friedrich Krieg (Hg.), Erster Band, Göttingen. MUNSKE Horst Haider (1997) : Orthographie als Sprachkultur, Frankfurt am Main, Peter Lang. - (2005a) : Die angebliche Rechtschreibreform, St. Goar, Leibniz Verlag. - (2005b) : Lob der Rechtschreibung, Warum wir schreiben, wie wir schreiben, München, C.H. Beck. RÄDLE Karin (2003) : Groß- und Kleinschreibung des Deutschen im 19. Jahrhundert, Die Entwicklung des Regelsystems zwischen Reformierung und Normierung, Heidelberg, Universitätsverlag Winter. RILKE Rainer Maria (1987) : Die Gedichte, Dritte Auflage, Frankfurt am Main, Insel Verlag. STIELER Kaspar (1968) : Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz, Band I: A-L, (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Nürnberg: Hofmann, 1691) Hildesheim, Georg Olms Verlagsbuchhandlung. ZABEL Hermann (1996) : Keine Wüteriche am Werk, Berichte und Dokumente zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, Hagen, Reiner Padligur Verlag. ZEMB (1997) : Für eine sinnige Rechtschreibung, Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust, Tübingen, Max Niemeyer Verlag. - (1998) : « Ein großes Provisorium legt sich übers Land. Wie an der Rechtschreibreform herumgeschustert wird: Die jüngsten Mannheimer Absichten » Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Januar, S. 37. - (2000) : « Ein Grund mehr, nicht Deutsch zu lernen. Einspruch aus Paris: Die Reform der Orthographie schadet im Ausland », Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. August, S. 44. - (2004) : « Der Rückweg aus Pisa führt über Canossa », in Stefan STIRNEMANN (Hg.) Im Wundergarten der Sprache, Eggingen, Edition Isele. Fußnoten 1) Ich führe einschlägige Titel der Genannten in der Bibliographie auf. 2) Zu rechtlichen Fragen vgl. W. Kopke (1995) und Th. Ickler (2001 : 177 ff). 3) Unter dem Namen Wahrig. Die deutsche Rechtschreibung erschien 2002 die Neuausgabe von Bertelsmann. Die deutsche Rechtschreibung. 4) Das Dokument ist publiziert im Periodikum: «Autorensolidarität. Börsenblatt österreichischer Autorinnen, Autoren & Literatur», Nr. 4/2009 S. 11 f. 5) Vgl. http://sok.ch/index___id=uber-die-sok!was.html Cahiers de lexicologie Dictionnaires et orthographe 2010 – 2, n° 97 Sous la direction de Christine Jacquet-Pfau et Michel Mathieu-Colas Stefan STIRNEMANN La réforme de l’orthographe allemande et la lexicographie orthographique allemande. Essai sur un faux indicatif - La réforme de l’orthographe allemande dure depuis quatorze ans déjà. Pendant ce temps, on a modifié deux fois la nouvelle réglementation de l’an 1996, fautive dès le début. Malgré cela, la prétendue nouvelle orthographe continue à contredire les lois de la formation des mots aussi bien que les habitudes orthographiques avérées. Sismographes de la langue (d’après Jean-Marie Zemb), les auteurs contemporains s’y opposent en grand nombre; pourtant l’État ne les prend pas au sérieux. Les ministres allemands de la culture avouent que cette réforme a été une erreur mais, au nom de la raison d’État, ils ne sont pas prêts à la faire annuler. Chaque modification de la nouvelle réglementation a entraîné une grande quantité de nouveaux dictionnaires d’orthographe. À la demande de l’État, la lexicographie a essayé de manipuler l’usage orthographique au lieu de l’observer et de l’enregistrer. Il était inévitable que cela provoque le désordre. L’ordre ne se rétablira que si l’on renonce à toute intervention étatique.
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