11.07.2009


Rechtschreibung – Die grosse Verwirrung

Regelwerk des Grauens – Orthografie schwergemacht

Für Abc-Schützen gilt es ab dem 1. August ernst: Ab diesem Datum wird die neue Rechtschreibung für sie verbindlich. Alle andern wursteln sich auch nach diesem Stichdatum weiter durch. Denn was richtig und was falsch ist, weiss schon lange niemand mehr mit Sicherheit.

Von Julia Konstantinidis

Im Vorweg: Dieser Artikel wurde nach bestem (möglichem) Wissen und Gewissen, in Treu und Glauben und mit wachsender Verunsicherung geschrieben. Einen Text über die deutsche Rechtschreibung zu produzieren, gleicht einem Tanz auf rohen Eiern. Es ist, auf gut Schweizerdeutsch, zum „schissig“ werden. Oder: Wie schreibt man „kürzertreten“? Zusammen oder getrennt? Weder die Arbeitskollegen noch die Sekretärin und auch nicht der Chef haben die passende Antwort. Solche Szenen sind in Büros und Redaktionen landauf, landab an der Tagesordnung. Die Suche nach der Wahrheit im Wörterbuch gleicht in vielen Fällen einer Odyssee durch Ausnahme-Kästchen und Varianten-Vorschläge, sodass der Ratsuchende bis zum Schluss nicht sicher ist, wie die korrekte Schreibweise nun lautet.

Gnade den Schülern, die ab dem 1. August verpflichtend die neue Rechtschreibung anwenden müssen. Denn Ende Juli läuft die Übergangsfrist zur Einführung der neuen Regeln in den Schweizer Schulen ab. Wer dann im Diktat „kürzer treten“ weiterhin auseinanderschreibt, sieht dafür rot. Vorausgesetzt, der Lehrer ist punkto Rechtschreibung sattelfest.

Gemse bleibt Gämse

„Es gibt in allen deutschsprachigen Ländern kurzfristig eine Verunsicherung“, tröstet Kerstin Güthert, Geschäftsführerin des Rats für deutsche Rechtschreibung. Ein schwacher Trost angesichts des Buchstabenschlamassels, mit dem es Schreiberlinge zu tun haben. Doch Güthert kann zumindest erklären, wie es so weit kommen konnte. Das Unheil nahm 1996 seinen Lauf: Damals trat eine, von einem hauptsächlich aus Sprachwissenschaftlern bestehenden Gremium ausgearbeitete, neue deutsche Rechtschreibung in Kraft. Sie ersetzte das alte Regelwerk, das seit 1901 gültig war.

Die Reform hatte jedoch weitgehend ohne die Praktiker, Buch- und Zeitungsverlage stattgefunden. Und diese liefen – vor allem in Deutschland – Sturm gegen die neuen Regeln.

Dermassen unter Druck gesetzt, rief die deutsche Ministerpräsidentenkonferenz 2004 den Rat für deutsche Rechtschreibung ins Leben. Die 40 Mitglieder aus sechs deutschsprachigen Ländern oder Landesregionen sollten sich dem verschmähten neuen Regelwerk annehmen. 2006 kam die überarbeitete und heute gültige Version heraus.

Und seither ist das Chaos perfekt. Denn um die Wogen zu glätten, nahm der Rat alte Schreibweisen wieder auf und liess sie, zum Teil als Varianten, im neuen Regelwerk wieder zu – allerdings nicht in allen Fällen. So bleibt die „Gemse“ eine „Gämse“. Das „e“ hatte auch nach der Überarbeitung keine Chance mehr, als Variante durch zu gehen [sic! SOK]. „Das Schwarze Brett“ hingegen kann jetzt wieder grossgeschrieben werden, ohne dass sich jemand darüber aufregt.

Weil diese Gummi-Regeln herzlich wenig regeln, gingen in Deutschland und der Schweiz Zeitungsverlage und andere Spracharbeiter dazu über, sich eigene Regeln zu setzen. So etwa die NZZ, deren Journalisten nach einer eigenen Hausorthografie, die der alten Rechtschreibung recht nahesteht, schreiben. „Die grösste Verunsicherung gibt es im Bereich des Zusammen- und Getrenntschreibens“, weiss Stefan Dové, NZZ-Chefkorrektor und Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung. Als langjähriger Korrektor habe er schon viele einzelne Sprachänderungen erlebt. Das neue Regelwerk sei wohl dermassen schlecht aufgenommen worden, weil so viele neue Regelungen aufs Mal eingeführt wurden, was die Anwender überrollt habe.

Monopol gestürzt

Von offizieller Seite her wird die Umsetzung des neuen Regelwerks heute allerdings als gelungen bezeichnet. „In den Schulen und der Verwaltung wird regelkonform geschrieben, die Umsetzung der neuen Regeln geht recht zügig voran“, meint Kerstin Güthert zur Situation in Deutschland, wo die Übergangsfrist für die Schulen bereits 2007 ablief. Und auch die Schweizer Lehrerschaft ist parat: „Während der Übergangsfrist wurden neue Lehrmittel und Lesebücher angepasst, die eintretenden Schüler kennen nur noch die neue Rechtschreibung“, meldet Sandra Hutterli, Verantwortliche Sprachen, Koordinationsbereich obligatorische Schule in der schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren.

Trotz dieser Beteuerungen regt sich in der Schweiz hartnäckig Widerstand gegen die neuen Regeln. Ihre Kritiker haben sich zur Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) zusammengeschlossen. „Uns geht es um eine einheitliche Schreibung“, betont SOK-Gründungsmitglied Rudolf Wachter. Der Professor für griechische und lateinische Sprachwissenschaft setzt sich mit Herzblut für dieses Ziel ein. Er empfindet das neue Regelwerk als ein dem Volk von politischen Behörden aufgezwungenes Dogma, wofür er keinerlei Verständnis aufbringen kann. „Die Sprachentwicklung ist ein viel zu demokratischer Vorgang, als dass sie von der Politik geregelt werden könnte“, ärgert er sich. Die neuen Regeln werden mitnichten akzeptiert. „Es brodelt auch in Deutschland.“

Sprache entwickle sich laufend. Das müsse beobachtet, und diejenigen Schreibversionen verwendet werden, die von den meisten Anwendern auch tatsächlich gebraucht würden. Das sei auch das Vorgehen des Dudenverlags gewesen, der mit dieser Methode während Jahrzehnten die deutsche Rechtschreibung pflegte. Mit Erfolg – für die Anwender und für das private Unternehmen. „Die Rechtschreibreform war ein Versuch der Politik, dem Duden die orthographische Monopolstellung wegzunehmen“, vermutet Wachter. Der Duden sei denn heute auch nicht mehr die unangefochtene Autorität in Sachen Rechtschreibung.

Rauchende Köpfe

Der Dudenverlag gibt neben den festgelegten Regeln weiterhin auch eigene Empfehlungen zur idealen Schreibweise heraus. Dumm nur, dass diese den Empfehlungen anderer Wörterbücher, etwa demjenigen des Wahrig-Verlags, teils diametral widersprechen.

So wird sich das Dickicht im Buchstabendschungel nie lichten, scheinen sich die SOK-Mitglieder gesagt zu haben, und verlangen deshalb ein Moratorium für die neue Rechtschreibung: In der Schule sollen weiterhin sowohl alte wie neue Schreibweisen akzeptiert werden. „So könne man wieder beobachten, welche Varianten öfter angewandt werden – und diese zu einem späteren Zeitpunkt für verbindlich erklären“, findet Sprachwissenschaftler Wachter. Ausserdem macht er sich – zu Recht – Sorgen um viele Bedeutungsdifferenzierungen in der deutschen Sprache. Denn weil die Kombination „wohlbekannt“ heute getrennt oder zusammengeschrieben werden darf, wird dem Leser nicht mehr gleich ersichtlich, ob es sich um einen „gut bekannten“ Sachverhalt handelt, oder ob gemeint ist, der Sachverhalt sei wahrscheinlich bekannt.

Dem unbedarften Sprachanwender und -konsumenten raucht nach eingehender Beschäftigung mit der Materie der Kopf. Und das, obwohl er doch nur wissen möchte, ob er nun „ohne Weiteres“ gross- oder kleinschreiben muss.

(Surprise, 3. bis 16. Juli 2009, Nr. 204, S. 13; www.strassenmagazin.ch)

Link: http://www.sok.ch/index___id=artikel.html

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