30.11.2008


Stefan Stirnemann

Merker Beckmesser

In seiner Funktion als Merker fordert Stefan Stirnemann im St. Galler Tagblatt unter anderem zu einem Korrekturwettstreit heraus, den man nur bestehen kann, wenn man sich in der „Wahnwelt der Rechtschreibreformer“ auskennt.


Was ein Beckmesser ist, weiss jeder: ein superkluger Nörgler. Das Amt des Merkers kennen wohl vor allem die Leser dieser Zeitung. Mann und Amt hat Richard Wagner mit Leben begabt, in der Oper «Die Meistersinger von Nürnberg». Ausgerechnet Beckmesser, der selber nicht recht singen kann, urteilt als Merker im Wettstreit der Meistersänger. Er singt: «Herr Ritter, wisst: Sixtus Beckmesser Merker ist; hier im Gemerk verrichtet er still sein strenges Werk.» Gemerk ist das Gerüst, in dem der Merker seines Amtes waltet.

Nun, im August habe ich mich in Beckmessers Gemerk gesetzt. Das schadet meiner Eitelkeit. Ich zitiere, wie immer, die Stellen mit Artikeltitel (wo nötig), Tag und Seite.

Josef Osterwalder schrieb einen seiner hintergründigen und unterhaltsamen Artikel, diesmal über die neue Verwendung des Sportplatzes Espenmoos (Süsser Breitensport, 28. August, 37). Im Satz «Die providurischen Tribünen sind entfernt» hielt ich das mir unbekannte Adjektiv für einen Tippfehler und verbesserte kaltblütig in provisorisch. Dass es sich um einen Wortwitz handelt, haben mir zwei Leser, Herr Waxenberger und Frau Bösch, mit verdientem Spott mitgeteilt, und der Autor selber, aus langer Erfahrung mit Verbohrtheit wohlvertraut, sah mir das Brett vor dem Kopf nach. – Aber muss der Merker wissen, versuche ich flau und lau eine Ausrede, dass jene Espenmooser Tribünen ein Dauerprovisorium waren?

«Wer ist der Merker?»

So fragt Wagners Ritter Walther von Stolzing. Ich bin Aarauer, meine fussballerische Heimat ist das Brügglifeld, nicht das Espenmoos. Mein Grossvater war einst Präsident des FCA, und mein Vater, Heiri Stirnemann, setzte als gefürchteter linker Flügel dem Gegner Tor um Tor ins Netz, vielleicht einst auch auf dem Espenmoos –, als Gast, will ich hoffen, mit dem gebührenden Respekt und Bedauern. – Und du, Merker, der du im letzten August ein Eigentor schossest, was ist dein Beruf? – Lateinlehrer. – Ach so, und du erkennst in providurisch nicht das lateinische Verb duráre, dauern? – Genug Zerknirschung! Der Schluss auf Schreibfehler lag nicht fern, die Finger neigen zum Danebentippen, wie in diesem Monat hier: Gerti Jones, die einen zum Tode verteilten Amerikaner heiratet («Nimm eine Dusche», 10, f3). Entschied steht noch aus (15, 49). Fido Mann, der Enkel von Thomas Mann (20, f2). Der Enkel heisst Frido.

«Versungen und vertan»

David, ein Sängerschüler, erklärt dem Ritter Walther von Stolzing, der sich dem Sängerwettstreit stellen will, wie der Merker arbeitet: «Sieben Fehler gibt er Euch vor, die merkt er mit Kreide dort an; wer über sieben Fehler verlor, hat versungen und ganz vertan!» Hier sind sieben Sätze. Wer merkt die Fehler an? Meine Verbesserungen stehen am Ende des Beitrags. Oder sind's Beckmessereien?

1 Ammann verlangt vom Parlament der St. Galler Katholiken, dass die Anpassung der Kirche an die heutigen Verhältnisse diskutiert und neu überdenkt werde (Leserbrief, Nicht aufgeben – die Fenster auftun hin zur Welt, 1, 31).

2 Wir erfahren ein Stück ungeschminkte Wahrheit nach der anderen (Das andere Amerika, 6, f1).

3 Jedesmal wenn der Sicherheitsdienst eingreifen müsse, werde dies registriert (Auffällige Jugendliche aufgreifen, 11, 39).

4 Das Image des Gamers ist kein Gutes (Virtuelles Schattenboxen, 12, 11).

5 Damit wollte Maroczy mir als – als solchen er mich zu empfinden schien – meine Grenzen aufzuzeigen (Identitätskontrolle im Jenseits, 12, f5).

6 Klicken Sie einfach eine der Sehenswürdigkeiten an, eines der nicht weniger als 6700 historischen Bauen (Abtauchen in das antike Rom, 19, 11).

7 Der Alltag im Wohnheim verläuft seit des Umzugs nach neuen Strukturen (Gossaus Villa Kunterbunt, 26, 41).

«…was doch solch ein Eifer?»

Wer für die klare und schöne Sprache, gegen das Ungefähre und Lieblose eifert, hat es nicht immer leicht, dem auf die Spur zu kommen, was er eifrig missbilligt. Am folgenden Satz des Klassikers Johann Gottfried Seume nahm ich Anstoss: «Wer nach meiner Überzeugung seine Pflicht getan hat, darf sich am Ende, wenn ihn seine Kräfte verlassen, nicht schämen, abzutreten» (Zitat, 14, f1). Warum sollte es von Seumes Überzeugung abhängen, ob jemand seine Pflicht tat? In solchen Fällen hilft das Internet. Zur Sicherheit eilte ich aber noch dahin, wo alle guten Bücher stehen, in unsere wunderbare Vadiana. In einer alten, «rechtmässigen» Gesamtausgabe lautet Seumes Satz so: «Wer nach reiner Überzeugung seine Pflicht getan hat…»

Der gewählte Präsident Barack Obama soll gesagt haben, «dass wir hoffen, während wir atmen» («Ein neuer Geist der Verantwortung», 7, 2). Nein, das ist falsch übersetzt; Obama meinte, dass die Amerikaner hoffen, solange sie atmen, und liess das lateinische Sprichwort «Dum spiro, spero» anklingen (Solange ich atme, hoffe ich).

Wie klar sind die Wörter des Tagblattes? Wer weiss, was nukleare Proliferation ist (Good luck, Mr. President, 5, 3)? Es ist die unkontrollierte Verbreitung atomarer Waffen. Die lateinische Bildung bedeutet «Tragen von Nachkommenschaft». Das Substantiv próles, Nachkommenschaft steckt vielleicht auch im Proletarier. Wie der römische Autor Gellius berichtet, ist das ein Bürger, der seiner Armut wegen den Staat nicht mit Steuergeld, sondern mit Nachkommen unterstützt.

«Der Merker wacht!»

Ich habe diesen Monat an zweiundzwanzig Tagen jeweils zwanzig mittelgrosse und grosse Artikel gelesen, und dennoch bin ich ein Verfechter umfangreicher Beiträge. Wer wirklich Gedanken entwickeln will, braucht Platz. Auch Wagners Opern dauern ihre Zeit. Kennzeichen einer guten Zeitung ist der Beitrag «Mit Felix nach Rom» (8, f1), der ausführlich und mit pädagogischer Einfühlung einen Besuch in der Kantonsschule am Burggraben schildert. Eine Seite wie die über Piraten und Islamisten (26, 3) gibt Belehrung und Stoff zum Denken. Dass die Piratin Mary Read wegen zweier Tippfehler mit neunzig Jahren schwanger wird und unvermutet Mary Lead heisst, könnte leicht vermieden werden. Wäre es nicht möglich, jeden Artikel einem Gegenleser vorzulegen? Im Tagblatt zähle ich noch zu viele Sprachversehen, weit über sieben.

Für falsch halte ich es, Artikel wie «Identitätskontrolle im Jenseits» kommentarlos abzudrucken (12, f5). Der Autor berichtet über seine Gespräche mit einem Schachmeister, der sich umständehalber im Jenseits aufhält. Zum fragwürdigen Inhalt passt der verunglückte Satz, den ich oben als fünften zitierte.

Zum Wiederlesen empfehle ich das Interview mit Wirtschaftsprofessor Ernst Fehr (26, f1). Ich entnehme ihm, wie wichtig in Zeiten der Börsenkrise eine klare, gemeinsame Sprache ist, die Sprache des Anstands.

Den novemberlichen Kaffeegutschein erhält zur Wiedergutmachung die Stadtredaktion; der Artikel, an dem ich zum Beckmesser wurde, erschien in ihrem Bereich.

Dem gutmütigen Josef Osterwalder aber schenke man den Kaffee grosszügig so ein, dass er ein wenig überfliesst, und spare auch nicht am feinsten Zucker.


Verbesserungen

1 überdacht.

2 ein Stück ungeschminkte Wahrheit nach dem anderen.

3 In der Wahnwelt der Rechtschreibreformer ist jedesmal falsch und durch jedes Mal zu verbessern.

4 kein gutes.

5 als solchen schien er mich zu empfinden oder: als welchen er mich zu empfinden schien. Grenzen aufzeigen.

6 eine der Bauten.

7 seit dem Umzug.

Link: http://www.tagblatt.ch/magazin/tb-md/art156,1216221

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=609