01.08.2006


Reinhard Markner

Der gelbe Riese

Was liest Annette Schavan in den Ferien? Den letzten Harry Potter? Band zwei der Memoiren von Helmut Kohl? Einen Reißer von Dan Brown?

Weit gefehlt. »Ich habe mir vorgenommen, im Urlaub den neuen Duden zu kaufen und mir genau anzusehen, wie die Regelungen nun aussehen«, sagte sie der Berliner Zeitung. Die »Regelungen« – das sind die Paragraphen der zweiten Reform der Rechtschreibreform. Könnte sein, daß die bildungsbeflissene Ministerin beim Schmökern ein gelbes Wunder erlebt.

Denn der Duden – es ist bereits der vierte reformierte – enthält nicht nur die fraglichen Regelungen, versteckt im Kleingedruckten, sondern auch 3000 gelb markierte Empfehlungen der Redaktion. Die sollen die Wahl zwischen ebensovielen Varianten erleichtern, präsentiert sich doch die neueste neue Rechtschreibung – es ist bereits die dritte – mehr denn je als eine Orthographie des Sowohl-als-auch.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung, an dessen Einsetzung Frau Schavan nicht unbeteiligt war, hat zwar aufreizend wenig geleistet. Aber immerhin hat er die Existenz einiger hundert Wörter wieder anerkannt, die durch die Reform zerhackt worden waren. Der Duden versucht nun, diese späte Rehabilitation zu unterlaufen und empfiehlt in den meisten Fällen weiterhin die reformgemäße Getrenntschreibung: »frei lebend« statt »freilebend«, »nichts ahnend« statt »nichtsahnend«. Eine »selbst gedrehte« Zigarette: wer spricht so?

Noch schriller ist, daß die Empfehlungen des Dudens völlig willkürlich sind. Meistens hat man sich in Mannheim für die reformierte Getrenntschreibung entschieden, aber nicht immer. Das Ergebnis ist absolut chaotisch: »furchterregend« zusammen, aber »Furcht einflößend« getrennt, »hochbegabt« zusammen, aber »hoch bezahlt« getrennt. Die Empfehlungen auf anderen Gebieten sind nicht minder rätselhaft: »Dränage« soll man mit ä schreiben, »Lymphdrainage« aber mit ai.

Das ist Rechtschreibung nach dem Zufallsprinzip, eine Art orthographisches Roulette. Annette Schavan spielt nicht mehr mit, seit sie Bundesministerin geworden ist. Aber für ihre ehemaligen Kollegen in der Kultusministerkonferenz und natürlich für Hans Zehetmair, den Vorsitzenden des Rechtschreibrats, ist der Vorgang eine große Blamage. Die Duden-Redaktion hatte im Rat fast alle Entscheidungen mitgetragen. Trotzdem torpediert sie jetzt die zaghaften Reparaturversuche, die Zehetmair als großartige politische Leistung verkaufen wollte.

Zu dumm auch, daß Zehetmair für den Wahrig, das mit dem Duden konkurrierende Wörterbuch aus dem Hause Bertelsmann, ein feierlich-nichtssagendes Vorwort geschrieben hat. So kann er jetzt die Mannheimer Eigenmächtigkeiten nicht kritisieren, ohne als befangen dazustehen.

Eigentlich sollte zum heutigen 1. August der allgemeine Rechtschreibfriede ausgerufen werden. Dafür hatte Zehetmair carte blanche nicht nur von der KMK, sondern auch vom Springer-Verlag, der versprach, seine Kampagne gegen die »Schlechtschreibreform« kleinlaut abzublasen. Auf die Unterstützung der sich gerne halbamtlich gerierenden Agentur dpa – selbst mit einem Mitarbeiter im Rat vertreten – konnte man ebenfalls rechnen.

Aber der neue Duden wirkt wie ein 1216seitiges Dementi. »Das sichere Ende der Rechtschreibreform ist gelb«, wirbt der Verlag – Spaß muß ja sein. Aber wer auch immer den Wälzer aufblättert, ob Ministerin oder Sekretärin, wird schwerlich den Eindruck gewinnen, daß dieses bunte Durcheinander aus rot gedruckten und gelb markierten Wörtern nebst blau hinterlegten Erläuterungen so etwas wie eine eindeutige und einheitliche, endgültige und verbindliche Orthographie darstelle, wie der Verlag es den Käufern weismachen möchte.

Tatsächlich verhält es sich so, daß weder Lehrer noch Eltern und schon gar nicht die Schüler die reformierte Rechtschreibung, in welcher Version auch immer, annähernd sicher beherrschen. Das mag manchem als fröhliche Anarchie erscheinen, hat aber doch auch etwas Peinliches an sich. Wolfgang Schneider, Professor der Psychologe an der Universität Würzburg, ließ im Rahmen eines Langzeitvergleichs ein Diktat aus den 1960er Jahren noch einmal schreiben. Sein Fazit: »Würde man das Rechtschreibniveau der Schüler von damals zum Maßstab nehmen, wären drei Viertel der heutigen Kinder Legastheniker.«

Es wird also weiterhin zwei Rechtschreibungen geben, zum einen die herkömmliche, die in sich konsistent und der deutschen Sprache durchaus angemessen ist, und zum anderen die reformierte, staatsgetragene, ewig reparaturbedürftige, die man eigentlich nur als deformierte bezeichnen kann. Und es wird immer weniger Menschen geben, bei denen wenigstens eine der beiden einigermaßen sitzt.

Wann also kommt der Rechtschreibfriede – oder wenigstens der Waffenstillstand? Die Debatte wird erst dann beendet sein, wenn die Politik aufhört, sich die Sprache untertan zu machen. Das kann dauern.

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Gegendarstellung: Zum Reformunsinn in Sachen Rechtschreibung
Liebe Leserinnen und Leser!

Manches ist doch vorhersehbar. Am 1. August 1999 wurde die Rechtschreibreform in Kraft gesetzt, am heutigen Dienstag wird ihre Reform für Schulen und Behörden verbindlich. Wir drucken aus diesem Anlaß jenen Text noch einmal, den wir am Montag, dem 2. August 1999, zum Umgang der jW mit den Rechtschreibregeln veröffentlichten:

»Seit Sonntag übermitteln die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen ihre Meldungen nach den Regeln jenes bürokratischen Kümmerproduktes, das als Rechtschreibreform der deutschen Sprache seit 1996 angeboten wird. Die meisten deutschsprachigen Zeitungen stellten sich ebenfalls um, in Behörden und Schulen hat das Amtsdeutsch schon Einzug gehalten. Natürlich gibt es Gegner der Veränderungen, die eine Initiative gegründet – früher hieß das Verein – sogar einen Gegen-Duden angekündigt haben (Theodor Ickler [Hg.]: ›Deutsche Einheitsorthographie – Wörterbuch der allgemein üblichen Rechtschreibung‹). Rund die Hälfte der Bevölkerung interessiert sich nicht für das Thema.

Natürlich ist die Reform auch keine Reform, sondern eine Verschlimmbesserung. Mit ihren Ausnahmegenehmigungen verdoppelt sie genau gezählt schlicht die Regelanzahl. Das garantiert den altbekannten sozialen Effekt der deutschen Rechtschreiberei, nämlich durch Zensurierung ihrer Beherrschung bzw. Nichtbeherrschung der Unterscheidung von gesellschaftlichem Unten und Oben zusätzliche Stabilität zu verleihen. Solange sich weder konsequente Umstellung auf einheitliche Lautwiedergabe (allein fürs x werden u. a. gs, ks, cks, chs, cchs angeboten) noch durchgängige Kleinschreibung durchsetzen, bleibt alles wie im deutschen Recht ungefähr auf Kaiserzeitniveau. In der jungen Welt war schon die alte Rechtschreibung nie ganz begriffen worden (daß statt ›das‹ durchaus sinnvoll manchmal ›daß‹ geschrieben wird, ignoriert bekanntlich die Mehrheit der Redakteure), die Redaktion verspricht, sich um die neue auf jeden Fall noch weniger zu kümmern. Auch wenn das ›dass‹ mal durchrutschen wird: Was sich durchsetzt, muß überhaupt nicht gut sein, wie jeder, der noch zur Wahl geht, und jeder Kunde von Bill Gates weiß.«

Die junge Welt blieb die einzige deutsche Tageszeitung, die sich »die qualvollste Episode der deutschen Sprachgeschichte« (FAZ) entgehen ließ. Andere Zeitungen kehrten zur Rechtschreibung zurück, die meisten pflegen bis heute die übriggebliebenen Reformunsinnigkeiten. Ob die auch noch beseitigt wurden, berichten wir Ihnen eventuell in sieben Jahren wieder.

Verlag und Redaktion

Junge Welt, 1. 8. 2006



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=498