21.07.2006


Christian Meier

Erster August

Der erste August, einstmals im Gedächtnis der Deutschen als Beginn des Ersten Weltkriegs, ist seit 1998 ein Datum, an dem die Rechtschreib„reform“ sei es an der Schule eingeführt (1998), sei es von Zeitungen übernommen (1999), sei es von Zeitungen verabschiedet (2000) wird.

2005 wurden die meisten der neuen Schreibungen für die Schulen verbindlich gemacht. Jetzt geschieht dies mit dem Rest. Und auch der Springerverlag stellt wieder einmal um.

Die Bilanz der "Reform" ist niederschmetternd. Geht man in eine Buchhandlung und treibt sich dort nicht gerade unter Schul- oder Kochbüchern herum, sondern unter Schriftstellern und Gelehrten, so findet man nach wie vor überwiegend die bewährte Schreibung, und es ist nicht abzusehen, daß sich daran so bald etwas ändert.

Eigentlich sollte die "Reform" inzwischen weniger anstößig geworden sein. So hatte es sich jedenfalls der Vorsitzende des Rats für Rechtschreibung, Hans Zehetmair, vorgenommen. Einiges, so die Getrennt- und Zusammenschreibung, hat er ja auch verändert. Anderes, so die Groß- und Kleinschreibung, steht noch aus. Und zweifellos harren noch haarsträubende Mißgriffe wie die Drei-Konsonanten-Regelung (Flussschifffahrt, Schlammmassen etc.), die vor 150 Jahren dank Jacob Grimm schon einmal abgeschafft wurden, sowie die "belämmerten" Volksetymologien ihrer Revision. Man hätte darauf warten können. Denn der Beschluß der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 30. November/ 1.Dezember 1995 sieht ausdrücklich vor: "Sollte sich herausstellen, daß die Übergangsfrist zu großzügig oder zu eng bemessen ist, wird eine Veränderung der Frist durch die KMK in Aussicht genommen."

Rückblickend wird deutlich, welch raffiniertes Manöver da über die Bühne gegangen ist. Man ersetzt die bisherige Kommission durch eine neue, wobei zahlreiche Mitglieder der alten auch in der neuen sitzen. Man trifft Vorsorge, daß die Mehrheit aus Reformanhängern besteht. Um deren Position noch besser abzusichern, müssen Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Um gelten zu können, müssen sie dann noch von der KMK gebilligt werden.

So können einige besonders anstößige Gravamina behoben werden - als erster Schritt zur Reform der Reform. Der Ratsvorsitzende läßt sich auf einen weiteren Trick ein. Es wird verfügt, Anfang März müsse klar sein, was nun gilt; strittig sei nur die Getrennt- und Zusammenschreibung, und die ist geregelt. (Womit die Minister gut demokratisch nicht nur darüber "verfügen", was gilt, sondern auch darüber, was strittig ist.)

So wird die unvollständige "Reform der Reform" zum Ganzen gemacht. Der Ratsvorsitzende und etwa die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, auf die er sich unwidersprochen in aller Öffentlichkeit beruft, merken gar nicht, daß der erste schon der letzte Schritt sein soll, soweit es nach den Ministern geht. Und sie wissen natürlich auch nicht, daß die beschlossenen Änderungen im jetzt erscheinenden Duden zum Teil schon wieder zurückgenommen werden.

[Angeblich dient das der Staatsräson. Doch ist beim besten Willen nicht auszumachen, wie es dem Staate dienen soll, eine derart mißlungene „Reform“ mit solchem Ingrimm zu verteidigen. Er macht sich dadurch eher lächerlich. Beim derzeitigen Bildungsstand sollte man also vermuten, daß Räson in diesem Zusammenhang nur ein falsch verstandenes Fremdwort ist. Fremdwörter sind Glückssache. Und mit fortune ist die KMK ja wahrhaftig nicht gesegnet.]

Der Ratsvorsitzende, der offenbar doch weniger ein reuiger Sünder als ein, wie landesüblich, wenig couragierter Politiker ist, kann erklären, was er will. Die Zeichen sind eindeutig: Soweit es nach den Ministern geht, soll die Schreibung so, wie sie jetzt ist, bleiben. Gleichwohl entblödet er sich nicht, überall herumzuschreiben und herumzutelefonieren, damit alle Zeitungen und alle Schriftsteller sich künftig darauf einlassen. [Anderes vollzieht sich auf dem kurzen Dienstweg zwischen dem Platz der Republik und der Kochstraße in Berlin.]

Die Akademie versucht Schadensbegrenzung, beschließt am 11. Mai eine kurze Resolution: "Die inzwischen erfolgte Reform der Rechtschreib,reform' ist zwar zu begrüßen. Doch enthält die neue Schreibung noch so viele gravierende Mängel, daß auf ihrer Basis die Wiederherstellung einer überwiegend einheitlichen Schreibung nicht gelingen kann. Es empfiehlt sich daher keineswegs, diese durchaus unbefriedigende Lösung als die längerfristig gültige anzusehen. Es würden dadurch die notwendigen weiteren Reformen sehr erschwert." [Doch das wird kaum zur Kenntnis genommen.]

Da nun aber die vorliegende Version der "Reform" die endgültige sein soll, besteht gar keine Aussicht darauf, daß die Einheitlichkeit der deutschen Schreibung in absehbarer Zeit sich wieder einstellen wird. Weithin werden die alten und, wie deren Erklärung zeigt, die wichtigsten jungen Schriftsteller wie die meisten Wissenschaftler an der bewährten Schreibung festhalten. Und ohnehin werden noch lange 99 Prozent der deutschen Literatur ihren Lesern in dieser Schreibung erscheinen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in der Begründung seiner, gelinde gesagt: nicht unproblematischen Entscheidung zur "Reform" 1998 erklärt, "nach derzeitigem Kenntnisstand" sei die ministerielle "Prognose, daß die Rechtschreibreform die notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde", nicht zu beanstanden. Was immer es für Kenntnisse hatte: An prognostischer Kapazität hat es offenkundig gehapert. Aber eben wegen der fortgesetzten Beratungsresistenz und Unbelehrbarkeit der Minister ist ganz ausgeschlossen, daß diese Schreibung, so wie sie ist, sich durchsetzen wird. Der Rat für Rechtschreibung muß, auch wenn es nicht genehm ist, seine Arbeit wiederaufnehmen oder durch einen anderen Rat ersetzt werden. Ganz an der Wissenschaft und ganz an Schriftstellern, Gelehrten und der Mehrheit der Schreiber kann man solche Schreibung auf die Dauer nicht behaupten. Es wird also immer wieder neue Umstellungen geben, immer wieder neue völlig überflüssige Kosten und Arbeit - bis am Ende vielleicht doch eine Schreibung sich herausstellt, die Zukunft hat.

Der Verfasser ist Althistoriker und ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Um die in eckigen Klammern stehenden Passagen gekürzt erschienen in der F.A.Z. vom 21. 7. 2006.




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