19.07.2006


Stefan Stirnemann

Richtiges Deutsch (Teil 2)

Peter Gallmann zeigt, was die neueste amtliche Rechtschreibung ist

Für die Netzseite der Forschungsgruppe Deutsche Sprache bespreche ich Walter Heuer, Max Flückiger, Peter Gallmann: Richtiges Deutsch, Vollständige Grammatik und Rechtschreiblehre unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtschreibreform, 27. Auflage, 2006.

(Teil 1 dieser Besprechung siehe hier.)

Peter Gallmann und die Seinigen

Als Karl Philipp Moritz (1756-1793) in einem Roman die Geschichte seiner Jugend erzählte, nannte er sich Anton Reiser. Reiser bedeutet den, der unterwegs ist, den Reisenden oder den Pilger, aber einen, der kein eigentliches Ziel hat. Auf einer seiner Wanderungen kehrt Anton Reiser in einem Dorfe namens Orschla ein; der Schulmeister des Orts erkennt ihn gleich als gebildeten Jüngling und Studenten und spricht lateinisch mit ihm. Nach manchen Gesprächen und Auseinandersetzungen – er muß sich gegen einen Werber wehren, der ihn zum Soldaten machen möchte – denkt Reiser ans Weiterziehen.
„Der Schulmeister sagte ihm auf lateinisch, wenn er morgen früh auf Mülhausen zureiste, so würde ihm der Wirt von diesem Gasthofe begegnen, der auch lateinisch spräche, und verreist gewesen sei, um die Seinigen (suos) zu holen.“
Am andern Tag begegnet Reiser unterwegs nichts Auffallendes, „außer einem pucklichten Mann, der zwei Schweine vor sich hertrieb, und ihn lateinisch anredete, weil er ihn für einen Studenten hielt. Dies war der Gastwirt aus Orschla, wovon der Schulmeister gesagt hatte, daß er (suos) die Seinigen holte, welcher aber (sues) Schweine geholt hatte, die der Schulmeister in Orschla nach der zweiten Deklination deklinierte, und sie dadurch zu den Seinigen erhoben hatte.“

Wie schreibt man die Seinigen nach neuer Rechtschreibung? Überraschenderweise groß oder klein. § 58 E3 lautet heute wie vor zehn Jahren: „In Verbindung mit dem bestimmten Artikel oder dergleichen lassen sich Possessivpronomen auch als substantivische possessive Adjektive bestimmen, entsprechend kann man hier nach § 57(1) auch großschreiben, zum Beispiel: Grüß mir die deinen/Deinen.“

Peter Gallmann läßt in seiner Übung 37 die Großbuchstaben einsetzen. Der Schlußsatz „Inzwischen grüße ich sie und die ihrigen aufs herzlichste“ ist zu verbessern in „Inzwischen grüße ich Sie und die Ihrigen aufs Herzlichste (auch: aufs herzlichste)“.
Den kleinen Buchstaben bei den Ihrigen schließt Gallmann durch eine Klammerbemerkung aus: „nicht anwendbar: → 1150“. Paragraph 1150 gibt die entsprechende Verfügung aus dem amtlichen Regelwerk mit diesen Worten: „In einigen Wendungen ohne Bezugsnomen wird das Possessivpronomen mit dem bestimmten Artikel gebraucht; es kommt dann einem nominalisierten Adjektiv nahe. Man kann dann kleinschreiben (=Regel für Pronomen) oder großschreiben (=Regel für nominalisierte Adjektive). Großschreibung ist unseres Erachtens vorzuziehen: Er kam mit den Seinen (oder: den seinen) vorbei.“

Zweifellos hat der Reformer und Rechtschreibrat Gallmann mit seinem Erachten recht. Aber solange das amtliche Regelwerk, an dem er doch mitgearbeitet hat, gilt, darf er nicht einzelne Regeln für „nicht anwendbar“ erklären. Wenn er sie für nicht anwendbar hält, muß er dafür sorgen, daß der Rat für Rechtschreibung sie abschafft. Wenn ihm das nicht gelingt, muß er seine Auftraggeber, die Erziehungsdirektoren, davon unterrichten, daß das Regelwerk mindestens in diesem Fall untauglich ist.
Das macht Gallmann nicht. In der Öffentlichkeit verteidigt er die Reform und sagt, eigentlich seien nur ältere, eitle Herren gegen sie. In seinem Buch nimmt er sich die Freiheit, mit den Regeln umzuspringen. Wer hat diese Freiheit? Nicht jedermann. Es sind die Seinigen und die ihrigen: die einflußreichen Räte für Rechtschreibung, welche ihren Wettbewerbsvorteil ausnützen dürfen und Wörterbücher und Lehrmittel verfassen.

Die Schweizer Seinigen
Ein Blick in die Vergangenheit: Der akademische Lehrer des Reformers Horst Sitta ist Hans Glinz. In einem seiner Bücher nennt er sich selbst einen modernen, begriffskritischen und empirischen Linguisten, dessen Maxime der alte Satz sei: „Ich weiß, daß ich nichts weiß.“ Als Glinz, am Schreibtisch sitzend, das auf dem Papier hatte, klopfte es, und herein trat der Schulmeister von Orschla: „Salve, o Glinz. Wir sind gebildet (docti sumus), du mußt es lateinisch sagen!“ Da übersetzte Glinz Sokrates in die Sprache Roms: „Scio ut nescio.“ Das ist kein Satz, es sind drei lateinische Wörter, die unverbunden nebeneinander stehen: Ich weiß, wie, ich weiß nicht. Ist es schon eine kindliche Meinung, daß, wer gebildet sein will, lateinisch können muß, so ist es ein arges Stück, daß jemand, der als Syntaktiker ernst genommen werden will, drei Wörtlein für einen Satz hält. Wo bleibt die Begriffskritik? Die neue Rechtschreibung hält Glinz für eine „Reform der Vernunft – nach jahrzehntelangen Lernprozessen“.

Horst Sitta ist der Lehrer Peter Gallmanns. Sitta war schon bei den Arbeitstagungen des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie dabei; der Kreis wurde 1980 in Basel gebildet, die erste Tagung war 1982 in Wien. Nachdem Sitta in fünfundzwanzigjähriger Arbeit das arme Wort Handvoll gebodigt hatte, schrieb er in der NZZ: „Eine Schreibung wie eine Handvoll mag sich daher dem sensiblen Schreiber mit Macht aufdrängen, auch gegen das Rechtschreibwörterbuch. Was spricht dagegen, dann im individuellen Schreiben zusammenzuschreiben? Auch Rechtschreibung braucht eine gewisse Elastizität. Das ist dann freilich keine Frage der Norm, sondern des Umgangs mit der Norm, des Usus. Und der kann in Grenzen durchaus seine eigenen Wege gehen, damit die Normen von morgen vorbereitend.“ (August 2004) Sitta meinte eigentlich: damit die Normen von gestern vorbereitend, denn Handvoll wurde ja vor der Reform als Wort gefühlt und geschrieben. Was heißt überhaupt Norm und wer setzt hier Grenzen? Sind wir nicht freie Menschen, die in aller Harmlosigkeit deutlich sagen und schreiben wollen, was wir meinen?

Ein weiterer Schüler Sittas ist Roman Looser, der im Rat für Rechtschreibung den Verein der Deutschlehrer vertritt. Looser hat überraschend den letzten Schweizer Sitz erhalten, der lange vakant geblieben war. Er hat sich wiederholt zur Reform geäußert (hier: Deutschblätter 51/2004, Deutschblätter 54/2005; siehe auch hier, S. 6).

Im Jahr 2005 fand im Kanton St. Gallen die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium statt. In der Sprachprüfung Deutsch mußten die Kleinen einen anspruchsvollen Text von Stefan Andres bewältigen: Die Überschwemmung von Città Morta; es ist die Schilderung eines Wasserunglücks aus dem Roman „Das Tier aus der Tiefe“. Die Umsetzung in neue Rechtschreibung war mißglückt: aufs Neue war zwar richtig groß geschrieben, aber wohlbekannt hätte man damals noch trennen müssen. Es kamen Kommafehler und weitere Versehen dazu. Schwierige Wörter wurden den Prüflingen erklärt. Andres schrieb:
„An diesem Abend stand der Regen wie eine Bürste schräg gegen den Berg und drückte sich mit seinen harten Strahlen scharf in die kärgliche Bodenkrume.“ Was bedeutet Bodenkrume? So lautete die Erklärung: „kleines Bröckchen Erde“. Ich stellte eine Fehlerliste zusammen: „Die Autoren der Prüfung erklären das seltene Wort als ‚kleines Bröckchen Erde‘. Das ist nicht richtig: gemeint ist die Erdschicht (Deutsches Wörterbuch unter ‚Krume‘: ackerkrume, die obere weiche und lockere erde, der ‚humus‘). Für Schüler, welche das nicht wissen, ist die Stelle unverständlich.“
Roman Looser, offenbar verantwortlich für diesen Text, wies meinen Einspruch in einer schwungvollen Stellungnahme zurück. Zur Bodenkrume schrieb er: „Die in Punkt 1 beanstandete Erklärung des Wortes ‚Bodenkrume‘ ist nachvollziehbar, die Passage ist aber dennoch verständlich.“ Was ist nun nachvollziehbar: die Beanstandung oder die Erklärung? Wie auch immer: Müßte man nicht merken, daß im zitierten Satz ein Erdbröckchen schlechterdings sinnlos ist?

Zur Familie gehören auch die Rechtschreibräte Thomas Lindauer und Claudia Schmellentin. Lindauer arbeitete bereits im Internationalen Arbeitskreis mit; Gallmann und Sitta waren sicher froh, als sie ihren alten Mitarbeiter als Ratskollegen begrüßen durften. Schmellentin wurde von Horst Sitta als seine Nachfolgerin in den Rat entsandt.

Zum Schluß weise ich auf zwei Lehrmittel hin.
1) Wort für Wort, Schweizer Schülerwörterbuch zu den Sprachlehrmitteln der Mittel- und Oberstufe mit rund 23000 Stichwörtern und den wichtigsten Regeln der Rechtschreibung (Lerhmittelverlag des Kantons Zürich, 10. Ausgabe 2004). Redaktion: Peter Gallmann, Thomas Lindauer unter Beizug einer Arbeitsgruppe. Korrektorat: Afra Sturm.
Die Redaktion samt Arbeitsgruppe hatte keine Zeit, die Revision vom Juni 2004 umzusetzen; seit langem, zum Beispiel, ist nur klein aufgeführt. Die Krume wird so erklärt: „Kleines Brotstückchen“. Das versteht nur, wer schon weiß, was das Wort bedeutet.

2) Schülerduden, Schweizerausgabe, Rechtschreibung und Grammatik (Verlag Sauerländer, 14., unveränderte Auflage 2001). Bearbeitet von Afra Sturm, herausgegeben von Horst Sitta und Peter Gallmann. Frau Sturm dankt im Vorwort: „Bei meiner Arbeit wurde ich von Peter Gallmann, Thomas Lindauer, Claudia Schmellentin sowie Horst Sitta unterstützt. Ihnen allen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.“
Das Buch wird heute noch verkauft, obwohl es längst überholt ist. Die Schweizer Seinigen denken wohl, daß so ein Büchlein ja nicht die Welt kostet – und es enthält Wahrheiten, die alle Revisionen überstehen werden, zum Beispiel: „Zusammengesetzte Nomen (Substantive) schreibt man zusammen: Steintreppe, Wochenlohn.“

Zur Zeit arbeiten die Schweizer Rechtschreibräte an neuen Lehrmitteln. Die Lehrmittel werden der Linie folgen, die Peter Gallmann in seinem „Richtigen Deutsch“ vorgegeben hat.

Was sagt der Schweizer Gallmann zum deutschen Eszett? Der Leser sei gespannt. Fortsetzung folgt.




Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=489