01.07.2006


Torsten Harmsen

Gefrorenes Chaos im neuen Duden

„Denkmal zehnjährigen Herumreformierens“

Der neue Duden ist da. Am 22. Juli kommt er auf den Markt, und man muß schon Muckis haben, um ihn zu stemmen.
Denn er ist gewichtiger geworden, enthält 130 000 Stichwörter, zehntausend mehr als vor sechs Jahren. Und fast fünfmal so viele wie sein Urahn von 1880. Dieser enthielt 27 000 Begriffe – von "Aal" bis "zwote". Die 24. Auflage nun reicht von "Aachen" bis "Zytotoxizität".

Spannend ist, wie viel man über den Wandel von Gesellschaft erfahren kann – anhand der Wörter, die seit der letzten Ausgabe 2004 neu dazu gekommen sind. Bei manchen fragt man sich: Warum erst jetzt? Etwa bei "Holocaustmahnmal", "Bundespolizei", "Dudelfunk" oder "Bauchgefühl". Andere widerspiegeln Debatten der jüngsten Zeit, etwa: "Heuschreckenkapitalismus", "durchregieren", "Gammelfleisch", "Feinstaubbelastung". Oder sie zeigen, womit Leute sich so beschäftigen, wenn der Tag lang ist: "Scoubidou", "Sudoku", "Internettelefonie" oder "Champagnerdusche".

Besonders interessant ist, wie man im neuen Duden das Chaos der Rechtschreibreform Seite für Seite vor sich sieht – ein Denkmal zehnjährigen Herumreformierens. Die ursprüngliche Reform wurde vor zehn Jahren durchgesetzt, um die Schriftsprache zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Der Rechtschreibkrieg, der folgte, brachte aber nicht mehr Einigung, sondern eine Unzahl möglicher Varianten und Sonderformen, die oft widersprüchlich sind. Allein im letzten Jahr hat der deutsche Rechtschreibrat die Reform mehrfach reformiert. Sie soll nun endlich am 1. August vollständig in Kraft treten.

Man kann sich nun also aussuchen: Schreibt man "Flatrate" oder "Flat Rate", "Myrre oder "Myrrhe", "Delfin" oder "Delphin", "Dekolletee" oder "Dekolleté", "ohne weiteres" oder "ohne Weiteres. "eincremen" oder "einkremen", "Eineurojob", "Ein-Euro-Job" oder "1-Euro-Job", "die deinigen" oder "die Deinigen", "Fotochemie" oder "Photochemie", "eierlegende" oder "Eier legende" Wollmilchsau.

Damit nun aber Schulen und Ämter nicht vollends in Verwirrung stürzen, tut der Duden etwas sehr löbliches (oder Löbliches?): Er gibt Empfehlungen. Mit schönem satten Gelb unterlegt er jene Varianten, die er den Schreibenden ans Herz legt. Und diese können der Rechtschreibreform, wie sie eigentlich geplant war, widersprechen. So empfiehlt der Duden etwa "Katarrh" und nicht "Katarr", wie die Reformer wollten, "imstande" statt "im Stande", "aufwendig" statt "aufwändig", "Über-Ich" statt "Überich".

Man fragt sich nur, welche Varianten nun in der Schule als richtig gelten sollen. Vielleicht das, was dem Lehrer so am ehesten zusagt. Und im Streitfall bleibt ja immer noch das Würfeln.

(Berliner Zeitung, 1. Juli 2006)



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=484