08.05.2006


Stefan Stirnemann

Zur Lage

Wenn man in diesen Tagen überhaupt etwas zur neuen Rechtschreibung hört, so ist es die Meinung, daß die Sache jetzt abgeschlossen sei. Wäre es doch so!

Es wäre so, wenn das, was der Rat für deutsche Rechtschreibung im Februar vorgelegt hat, „Regeln und Wörterverzeichnis“, seinen Zweck erfüllte. Man werfe einen Blick ins Wörterverzeichnis: Einen Uhrzeiger kann ich „richtig stellen“ oder „richtigstellen“, einen Sachverhalt nur „richtigstellen“. Mich selbst kann ich „schön machen“ oder „schönmachen“, meinen Hund nur „schönmachen“. Darf ich nun den Hund „richtig stellen“ und den Uhrzeiger „schön machen“? Mindestens in diesem Bereich sind die Regeln, wenn es sie überhaupt gibt, noch nicht gefunden. Die Verbesserungen des Rates für Rechtschreibung müssen verbessert werden.

Die Sache ist auch deswegen nicht abgeschlossen, weil nun unter vielen tatsächlichen oder angeblichen Varianten gewählt werden muß. Den Reformern kann man diese Wahl nicht überlassen; sie haben bisher keine Rücksicht auf den Sprachgebrauch genommen und werden sie auch weiter nicht nehmen. Sie fühlen auch keine Verantwortung für die Schule. Noch in der neuesten Ausgabe des Schweizer Schulwörterbuchs „Wort für Wort“ (2004) steht – ein Fehler der ersten Stunde – „wieder sehen“, als ob es „wiedersehen“ nicht gäbe. Hermann Zabel erklärte den Fehler 1997 als „konzeptionellen Verzicht“, aus dem Herausgeber und Autoren neuer Wörterbücher bedauerlicherweise falsche Schlüsse gezogen hätten. In all den Jahren seither hielt es die Redaktion des Schweizer Schulwörterbuchs nicht für nötig, sich um die richtigen Schlüsse zu bemühen; es sind die Rechtschreibräte Peter Gallmann und Thomas Lindauer „unter Beizug einer Arbeitsgruppe“. Die Räte und ihre Gruppe enthalten den Schülern auch die Änderungen vom Juni 2004 vor, obwohl sie unterdessen notenwirksam geworden sind. Es liegen etliche Jahre Arbeit vor uns, bis im Rechtschreibunterricht wieder geordnete Zustände herrschen.

Drittens muß das angepackt werden, was der Rat noch offenließ, z. B. die Groß- und Kleinschreibung. Hermann Zabel schrieb einst einen stolzen Brief an Günter Grass: „Ich bin bestürzt über die Schreibblasen, die Sie mit Blick auf die beschlossene Rechtschreibreform zu Papier gebracht haben und in denen Sie zu erkennen geben, dass sie das neue Regelwerk nicht kennen.“ Im neuesten Regelwerk spukt immer noch die „Artikelprobe“ herum. Wer wissen will, was sie wert ist, lese Zabels Erklärungen (Die neue deutsche Rechtschreibung, Überblick und Kommentar, 1997). Um falsche Ergebnisse auszuschließen, erweitert Zabel die Artikelprobe zur „Wörterbuch-Artikel-Probe“; weil aber auch diese erweiterte Probe nicht ganz sicher ist, empfiehlt er kurzerhand, „sich die zu dieser Regel angebotenen Beispiele einzuprägen“. Diese und verwandte Schulstuben-Regeln müssen wieder weg.

Zu erreichen ist das nur über Berichterstattung. Man muß den Stand der Dinge darlegen und zeigen, daß wir das Ziel einer einheitlichen, sprachrichtigen und reifen Rechtschreibung noch nicht erreicht haben.

Die Schweizer Monatshefte geben dieser Berichterstattung immer wieder Raum; sie verdienen Anerkennung und Nachahmung. Wir dokumentieren aus der Doppelnummer März/April einen weiteren Beitrag. Das Heft ist Europa gewidmet und kann bezogen werden unter: Schweizer Monatshefte, Vogelsangstraße 52, CH-8006 Zürich, www.schweizermonatshefte.ch.


Zweidrittelmehrheit für Zweidrittelrechtschreibung

Stefan Stirnemann

Ein tiefsinniges Scherzwort sagt: Vor zwei Tore gestellt, über deren einem stünde „Zum Himmelreich“, dem andern aber „Zu Vorträgen über das Himmelreich“, wählten die Deutschen das zweite Tor. Ist es sicher, daß das Wort nicht auch die Deutschschweizer trifft? Und wie steht es mit der Wahl zwischen „Zum Kampf gegen den Unsinn“ und „Zu Witzen über den Unsinn“? Der Vorteil der zweiten Tür leuchtet ein: sie führt zu weichen Sesseln, in denen man Tränen lachen kann und am Ende vor Lachen so schlaffe Muskeln hat, als hätte man was getan.

Über die neueste Reform der Reform der Rechtschreibung hört und liest man, ist man der Sache nicht müde, viele Witze. Der gröbste Witz aber ist der, daß auch diese Reform der Reform mitgemacht wird. Der Rat für Rechtschreibung, der die Neuregelung zu überarbeiten hatte, legte im Februar ein weiteres amtliches Regelwerk vor, das dritte seit 1996 – das zweite erschien im letzten Sommer. Das Wörterverzeichnis – die Hauptsache – erstellten drei Wörterbuchverlage, die im Rat vertreten sind; der Rat selbst überprüfte das Ergebnis nicht, und die deutschen Kultusminister haben ebenfalls ohne Prüfung alles gebilligt. Regierungsrat Hans Ulrich Stöckling, Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) hielt die erneuten Änderungen im St. Galler Tagblatt vom 1. März für „unausgegoren“; die Schweiz werde sie vorderhand nicht übernehmen. Drei Tage später hieß er sie in der Neuen Zürcher Zeitung „akzeptabel“. So wandte er sich gegen den Dachverband der Schweizer Lehrkräfte (LCH), der in seiner Stellungnahme von „Pfusch unter Zeitdruck“ spricht, die Reform angesichts dieser Änderungen als „gescheitert“ bezeichnet und fordert, „die Pflege der Rechtschreibung grundlegend neu und diesmal professionell“ zu ordnen.

Wie kamen die umstrittenen Ergebnisse zustande? Der Rat für Rechtschreibung ließ sich von der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgeben, was er behandeln dürfe und was nicht. Die brandenburgische Ministerin Wanka freilich, bis vor kurzem Präsidentin der KMK, bekannte im Januarheft des Spiegels: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ Das Sagen im Rat haben die Urheber und Verfechter der Reform und die Wörterbuchverlage; der einzige Kritiker, zugleich einer der wenigen Sachverständigen, Theodor Ickler, trat im Februar enttäuscht aus. Um sich gegen zu weitgehende Änderungen abzusichern, verordnete sich der Rat gleich zu Beginn seiner Arbeit die Zweidrittelmehrheit. In unseren aufgeklärten Tagen wird also mit Zweidrittelmehrheit über Grammatik, Wortbildung und Schreibweisen abgestimmt; das gibt eine Zweidrittelrechtschreibung.

Die widerstrebende Öffentlichkeit wird im Rat verhöhnt; Jürgen Hein, Vertreter der Nachrichtenagenturen, nannte die Zeitungen und Verlage, die sich immer noch widersetzen, „Krawallmacher“ und stieß auf keinen Widerspruch. Ein erstes Anhörungsverfahren wurde in panischer Eile über die Weihnachtstage durchgeführt. Nach welchen Gesichtspunkten Hans Ambühl, Generalsekretär der EDK, die Teilnehmer auswählte, ist ein Rätsel. Ein Rätsel ist auch, warum er neben einigen Verbänden noch Roman Looser zu einer Stellungnahme aufbot, welcher Mitglied des Rates ist und Schüler des Schweizer Reformers Horst Sitta. Die Selbstbegutachtung, in Wissenschaft und Politik unüblich, spielt in der Geschichte dieser Reform immer wieder eine Rolle. Die Verhöhnung der Öffentlichkeit auf die Spitze trieb der Vorsitzende des Rates, Hans Zehetmair, deutscher Staatsminister a.D.; um seinen Auftraggebern, den Kultusministern, zu willfahren, sagte er eine zweite Anhörung, zu der er bereits eingeladen hatte, wieder ab. Begründung: Der Rat sei einig und die Zeit sei knapp. Die Sache soll zum neuen Schuljahr bereinigt sein.

Wie sieht die neue Zweidrittelrechtschreibung aus? In unüberschaubar vielen Fällen wurden den reformierten Schreibweisen die herkömmlichen als Variante beigegeben. Harte Verstöße gegen die Sprache ließ man stehen. Ein Regelwerk, das in sich widersprüchlich ist, sichert auch dann keine einheitliche Rechtschreibung, wenn sich alle darauf verpflichten lassen. So unzureichend die Änderungen sind, sie führen dazu, daß alle Wörterbücher überarbeitet werden müssen, welche die EDK letzten Sommer für verbindlich erklärte. Wenn in Kürze ein neues Bertelsmann-Wörterbuch erscheint, wird sein Vorgänger sieben Monate gegolten haben. Was man selber verpfuschen half, immer wieder zu verbessern: das ist ein Geschäft.

Regierungsrat Stöckling sagte im St. Galler Tagblatt, gemäß Meinung der EDK könne in einem freien Land jeder schreiben, wie er wolle, und nur die Schule brauche ein Regelwerk. Nein! Auch in einem freien Land schreibt niemand, wie er will, sondern jeder so, wie es üblich ist – er will ja verstanden werden. Die Schule aber muß den Schülern das vermitteln, was üblich ist. Auch das dritte amtliche Regelwerk leistet das nicht.

Deutschland will sich offenbar noch längere Zeit an der Nase herumführen lassen. Müssen wir unsere Schweizernase auch hinhalten?

(Schweizer Monatshefte 3/4, 2006)



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=462