29.06.2005 Eckhard Hoog Selbst Studenten schreiben „schwängt“Aachener Linguist Christian Stetter: Auswirkungen der Rechtschreibreform an Hochschulen angekommen„Das Sprachgefühl ist kaputtgegangen, die Morphologie bricht zusammen.“ Die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache werden häufig nicht mehr erkannt: Bei Sprachwissenschaftler Christian Stetter, Dekan der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen, schrillen die Alarmglocken.Er stellt zunehmend fest, dass viele Studierende die Rechtschreibung jetzt überhaupt nicht mehr beherrschen. „Und das ist die übereinstimmende Erfahrung aller Kollegen“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Das haarsträubendste Beispiel dafür, dass die Wortstämme nicht mehr erkannt werden, lieferte ihm ein Student mit der Schreibung „schwängt“ – statt „schwenkt“. „Und Kommas werden sowieso nur noch per Zufallsgenerator gesetzt.“ Das ist für den Aachener Linguisten das Ergebnis von neun Jahren Rechtschreibreform: „Die Auswirkungen haben die Hochschulen erreicht.“ Die „Kernsemantik“ werde selbst von Studierenden nicht mehr verstanden, vor allem aufgrund der zahlreichen Schreibvarianten – sie ist nicht mehr eindeutig. Regeln auf 270 Seiten Hand aufs Herz: Wer blickt bei der Rechtschreibreform eigentlich noch durch? Was gilt ab 1. August für Schulen und Behörden, und was nicht? Vor allem: Wer kennt überhaupt all die Einzelheiten jenes „Amtliche Regelwerks“, das man im Internet herunterladen kann (www.ids-mannheim.de/reform)? Die so genannte „Vereinfachung“ der Rechtschreibung, die den Schülern das Leben erleichtern sollte, breitet sich mit ihren Paragraphen auf sage und schreibe 270 (!) DINA4-Seiten aus. Hinzu kommt, dass nach tiefgreifenden Änderungen nur der Stand des Jahres 2004 wiedergegeben wird. Das ursprüngliche „Amtliche Regelwerk“ von 1996, nach dem sich mancher Lehrer womöglich noch orientiert hat, sah sowieso ganz anders aus. Aber auch die letzte Version von 2004 ist keineswegs die letzte Fassung: Sie enthält noch gar nicht die umfangreichen Änderungen, die der Rat für Deutsche Rechtschreibung gerade erst im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung beschlossen hat. In diesem Kernbereich ist nahezu der Zustand vor der Reform wieder hergestellt. Die Kultusministerkonferenz (KMK) indessen hat Anfang Juni den Beschluss des Rates darüber gar nicht erst abgewartet und zur gleichen Zeit, als die Experten noch tagten, die angeblich „unstrittigen“ Teile der Reform ab 1. August für gültig erklärt. Für die „strittigen“ Bereiche Getrennt- und Zusammenschreibung, Silbentrennung und Zeichensetzung wurde eine weitere „Übergangsfrist“ eingeräumt. Stetter sieht darin eine „Zumutung für Millionen von Kindern“, die ab 1. August nach Regelungen unterrichtet werden, von denen man jetzt bereits weiß, „dass sie das nächste Jahr nicht überleben werden“. Und er erkennt eine „Diskreditierung“ des Rates, der „gute Arbeit geleistet“ habe, aber offensichtlich von der KMK kaltgestellt werden soll. Im Übrigen hält Stetter die KMK-Einteilung in „strittig“ und „unstrittig“ für absurd: „Die Groß- und Kleinschreibung ist mindestens genauso umstritten.“ Die Verantwortung, so Stetter, werde ab jetzt den Wörterbuchverlagen zugeschoben, hat die KMK doch zuletzt wörtlich empfohlen, „in Zweifelsfällen“ ein Wörterbuch zu Rate zu ziehen, „welches nach den Erklärungen des Verlages den aktuellen Stand der Neuregelungen“ repräsentiere. Verlage sollen also die Rechtschreibung gültig dokumentieren – mit einer einfachen Erklärung ist das künftig schon getan . . . Am kommenden Freitag tritt der Rat für Deutsche Rechtschreibung wieder zusammen, um diesmal über Silbentrennung und Zeichensetzung zu beraten. Ein hübsches Beispiel macht auf Anhieb klar, worum es geht: „Der Vater schlachtete ein fettes Schwein und die kleine Tochter des Nachbarn lud er zum Essen ein.“ Dabei wird auch deutlich, weshalb die Deutsche Presse-Agentur und die deutschen Zeitungen 1999 beschlossen hatten, bei der alten und eben „bewährten“ Zeichensetzung zu bleiben: Um schlicht und ergreifend die „gute Lesbarkeit“ zu erhalten. Die Reform aber gibt zum Beispiel nur eine „Kann-Regel“ vor, wenn es darum geht, zwischen gleichrangigen Teilsätzen, die durch „und“ verbunden sind, ein Komma zu setzen. So schlachtet denn der Vater gleich beide, Schwein und Tochter . . . Häufig liegt es nach der Neuregelung „im Ermessen“ des Schreibenden, ein Komma zu setzen. Schöne Sätzchen sind auf diese Weise der Reform nach richtig: „Sie hielt das Steuer in der Hand den Atem an.“ Oder: „Er begann die Mütze auf dem Kopf zu essen.“ Auch fein: „Der Vater empfahl dem Lehrer nicht zu widersprechen.“ Auch die reformierte Silbentrennung hat es in sich: Der Demok-rat verliert die Kont-rolle mangels Konzent-ration und greift zur Pat-rone, a-ber gibt sich dann doch nicht die Kugel bei so viel reformiertem Trennungsunsinn jenseits aller Lesbarkeit, Silben- und Wortstammverständnis und schneidet sich tode-lend die Pulsa-der auf. Silbentrennung – was früher ein marginales Problem war, versteht man jetzt zwar nicht mehr, liest sich aber lustig. Kleines Beispiel zum Lachen noch zum Schluss, entnommen der Fernsehprogrammbeilage der Süddeutschen Zeitung, zitiert bei www.sprachforschung.org: „Barbara Havers findet die allein stehende Morag tot in ihrer Wohnung in Oxford auf.“ – Ob sich bei der Rechtschreibreform Goethe im Grabe umdreht, weiß man nicht, doch dass Tote jetzt im Wohnzimmer herumstehen, das ist belegt . . . Infos im Internet unter: www.sprachforschung.org www.ids-mannheim.de/reform Aachener Zeitung/Aachener Nachrichten, 29. 6. 2005
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