29.03.2008


Theodor Ickler

Resteverwertung

Noch eine überflüssige deutsche Grammatik

Wellmann, Hans (2008): Deutsche Grammatik. Heidelberg (Universitätsverlag Winter)

Im Untertitel heißt es: „Laut. Wort. Satz. Text.“ Die tatsächliche Gliederung des Buches ist jedoch: Wort, Satz und Text, und unter „Wort“ werden auch die Lautlehre, die Schrift und die Rechtschreibung abgehandelt, obwohl zumindest letztere darüber hinausgeht.

Die Kapitel und Unterkapitel sind in kaum nachvollziehbarer Weise angeordnet, es herrscht ein großes Durcheinander. Man sehe sich etwa die Seiten 52ff. an: Wortakzent, Flexion, semantische Merkmale – alles durcheinander. Immer wieder werden Gedichte, Witze und Karikaturen eingeschoben, die den trockenen Text auflockern sollen, aber meist zufällig wirken und nur sehr entfernt mit dem zusammenhängen, was sie erläutern sollen. Sprunghafte Assoziationen stören den Textfluß zusätzlich, z. B. so: „Bei Antworten auf Fragen nach dem 'Warum?' wird auch die Geschichte der Sprache einbezogen, wenn es zum besseren Verständnis beiträgt. Für Schopenhauer war die Kausalität sogar die einzige rationale Kategorie des wissenschaftlichen Denkens.“ (Einleitung S. 18) – Was hat Schopenhauers Philosophie mit der Einbeziehung sprachgeschichtlicher Erklärungen zu tun?

Ab und zu werden Aufgaben aus Staatexamensklausuren durchgesprochen, deren Durchführung eine der Quellen für diese Grammatik gewesen zu sein scheint – neben Wellmanns Arbeit am Langenscheidt-Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache, das zwischendurch immer wieder als vorbildlich gelobt und aus dem auch eine ganze Seite abgedruckt wird. Auf S. 215 werden dem Leser plötzlich „Aufgaben“ gestellt.

Es gibt viele Druckfehler. Der Name Ogden wird 5mal nacheinander Odgen geschrieben und tritt so auch im Literaturverzeichnis auf. Der Literaturhinweis Wellmann 1990 endet blind. Perforance (17), Phonetique (20), zur dieser (35), legetimieren (52), Chonsky (110), Kitzbühl (111), akkustisch (130, statt akkusativisch), Angebesatz (215, statt Angabesatz), Dhyr (298, statt Dyhr). Oft werden falsche Spatien gesetzt, manchmal ist die Kursivierung falsch. Zwischendurch erscheinen Absätze in Flattersatz (39), der Seitentitel Der Satz tritt schon vorzeitig auf, ebenso später Der Text.

Wellmann bedient sich der reformierten Rechtschreibung, die er auch ausführlich bespricht, allerdings nur die Reform von 1998 und deren Revision 2004; von 2006 weiß er noch nichts, so daß Teile der Darstellung überholt erscheinen (z.B. die Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben). Wellmann stellt die Neuregelung konsequenter und unproblematischer dar, als sie ist. Es ist nicht richtig, daß die Reformschreibung die Ersetzung von é durch e zuläßt (37); dies gilt vielmehr nur für wenige, im amtlichen Verzeichnis ausdrücklich aufgezählte Wörter, also nicht für Abbé, Attaché, Café usw. Im Glossar wird die Stammschreibung nochmals dargestellt, ohne Hinweis auf das Irrige der gewaltsamen Volksetymologien (Gräuel usw.). Übrigens ist auch Wellmanns Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache zweimal durch die Rechtschreibreform und ihre Revision überholt worden; er hätte allen Grund, die Reform kritisch zu sehen.

Sein eigener Gebrauch der Reformorthographie ist fehlerhaft: im einzelnen, im wesentlichen (aber im Allgemeinen), groß/klein schreiben, folgendes, des weiteren, als zweites, der dritte von rechts, dem selben, läßt, muß, Prozeß, daß, Schluß (und weitere Versehen bei der s-Schreibung), solange als möglich (und ähnliche Fehler), Du, Euch (116, nicht in Briefen!), Nußbaumer (229, statt richtig Nussbaumer, wie in der Bibliographie), an seinem Buch weiter zu arbeiten (und ähnliche Getrenntschreibungen), Fokusierung (123; im Glossar wird fokus[s]ieren angegeben, entgegen den Wörterbüchern). Obwohl Wellmann die neue Trennbarkeit von st bejubelt („endlich!“, S. 37), trennt er Fen-ster, Mu-ster, höch-stens, wichtig-ste. Von den Prinzipien der Schreibung ist das morphologische das Wichtigste (34). Das Ohmsche Gesetz ist nach der Reform falsch (36). heute Abend ist immer groß geschrieben, heute morgen dagegen 9mal nacheinander klein (185ff.). (Sonderbarerweise sieht Wellmann in heute morgen ein „nominales Satzglied“, ohne dies näher zu erklären.) Job-sharing, Dativus commodi, Verba dicendi (279, sonst meist reformgemäß groß) usw. sind nicht mehr zulässig, hier und in vielen ähnlichen Fällen muß jetzt der zweite Teil groß geschrieben werden. Aber Dativus Ethicus (330) ist auch nicht richtig. Originaltexte werden teils in originaler Orthographie abgedruckt, teils sind sie in Reformschreibung umgesetzt, so ein Text von Günter Kunert, einem entschiedenen Reformgegner, und Auszüge aus Grass' „Im Krebsgang“ und Reich-Ranickis „Mein Leben“.

selbständig und selbstständig wechseln im gleichen Abschnitt, ebenso gleichlautend und gleich lautend, zusammenschreiben und zusammen schreiben.

Anakoluth wird fälschlich als Ana-koluth erklärt (268).

Wellmann spricht von „gebundenen, zu einer festen (suprasegmentalen) Einheit vereinten Größen“ (15) – ein ganz unüblicher Gebrauch von „suprasegmental“.

Die Unterscheidung von Sprachsystem und Rede sollen wir Hegel verdanken (19).

Das aus Bußmann übernommene Vokaltrapez (25) ordnet [a:] den gerundeten Vokalen zu. (Auch Busch/Stenschke, die dasselbe Diagramm abdrucken, haben den Fehler nicht bemerkt.)

standhalten und teilhaben/teilnehmen hält Wellmann für Rückbildungen (38) – bei einem Spezialisten für Wortbildung etwas überraschend.

Daß das Futur II „modal gebraucht“ werde, kann man so allgemein nicht sagen (67), und die weitere Ausführung widerlegt es auch sogleich: In Innsbruck wird es dann schon geschneit haben. (Wobei noch rätselhaft bleibt, daß das Ereignis nach – statt vor – einem fiktiven Bezugszeitpunkt stattgefunden haben soll.)

Bei Es wurde getanzt (68) verkennt Wellmann das Vorfeld-es als formales Subjekt. S. 85 sind die verschiedenen es dann richtig differenziert.

Das Partizip II soll „das Geschehen als vollzogen“ darstellen (69). Das trifft offenbar nicht zu auf Verwendungen wie Die Stadt wird belagert, die Wellmann nicht erwähnt.

Auf S. 75f. scheinen die Ausführungen über Feminina, Neutra und Maskulina durcheinandergeraten zu sein.

„Der bestimmte Artikel und das Relativpronomen sind homonym.“ (83) Das ist offensichtlich falsch, denn das Relativpronomen stimmt mit dem Demonstrativpronomen der/die/das überein, nicht mit dem Artikel.

Die Ausführungen über das Reflexivpronomen sind so formuliert, als gälten sie nur für die Form sich, vgl. besonders S. 85. Daß das ganze Paradigma betroffen ist (ich freue mich, wir schämen uns usw.), wird übergangen, und das ist gerade wegen des Vergleichs mit anderen Sprachen wie Russisch (ebd.) irreführend. Erst viel später, S. 129, findet man einen entsprechenden Hinweis. Es bleibt aber insgesamt unklar, wie sich im Paradigma der Personalpronomina unterzubringen ist.

Daß Phraseologismen wie gemeinsame Sache machen nicht passivierbar seien (99), trifft nicht zu.

Daß Ferdinand Sommer nur zwei Wortarten unterscheide (43), ist nicht richtig; offenbar ist die Gliederung des Hauptteils seiner Vergleichenden Syntax in diesem Sinne mißverstanden.

Es ist auch nicht wahr, daß Adjektive wie endgültig nicht steigerungsfähig seien, man findet viele Belege, die das Gegenteil dieser logizistischen Behauptung beweisen.

Welcher Arzt würde seinen Patienten im Infinitiv anfahren: Brust freimachen! (118)

Im Glossar wird der „Pechvogeldativ“ schlicht mit dem Dativus incommodi (sic) gleichgesetzt, was nicht richtig ist.

Die Lehre von der Subjekt – Verb – Objekt-Stellung und „Inversion“ sollte man für das Deutsche endlich aufgeben.

161: Die Suppe duftet/riecht/schmeckt/stinkt nach Fisch.
Hier will Wellmann die Kasusrolle „Ausgangspunkt“, „Source“ sehen – aber wieso denn? Der Geruch kommt doch nicht vom Fisch, sondern er ähnelt dem von Fisch, kommt ihm nahe.
In Sie griff/fragte nach dem Kind sieht er die Rolle „Begleiter“, was für mich ebenfalls nicht nachvollziehbar ist.

189: „Eine Zwischenstellung zeigt das Adjektiv in Sätzen wie Mutter stellt den Braten mürrisch auf den Tisch. Grammatisch ist mürrisch freies Adverb, semantisch aber gehört es zum Subjekt (Probe > die mürrische Mutter).
(...)
In dem Satz Mutter stellt den Braten kalt auf den Tisch ist das Adjektiv kalt – syntaktisch gesehen – freies Adverb, semantisch aber gehört es zu Braten (Probe: > den kalten Braten).“

Ebenso S. 205: Das Adjektiv beziehe sich formal auf das Prädikat, semantisch aber auf das Subjekt oder Objekt.

Laut vor sich hin murmelnd (?) – In Wellmanns eigenem Wörterbuch wird murmeln so erklärt: „etwas sehr leise und undeutlich sagen: leise vor sich hin m“.

Die Partizipialkonstruktionen, um die es an mehreren Stellen geht, sind nur ein Sonderfall der nichtfiniten „Satzabschnitte“ (Sütterlin) und können ebensogut Adjektive und noch weitere Möglichkeiten betreffen.

200 unten: Hier scheint etwas durcheinandergeraten zu sein, da die Ausführungen sich nicht mehr auf die Artikel beziehen können, deren Einordnung als Artikelwörter ja nicht zur Diskussion steht, sondern auf Pronomina.

Satzgefüge werden unter „Text“ behandelt statt in der Syntax, wo sie hingehören. Unter „Text“ gibt es auch weitere Ausführungen zum Tempus, zum Konjunktiv und zum Passiv. Immer wieder trifft man auf langweilige und nutzlose Aufzählungen von sprachlichen Mitteln, z. B. 229.

Der letzte Teil des Buches besteht aus willkürlich aneinandergereihten Bemerkungen über Stil; mit Grammatik haben sie entgegen der Überschrift nichts zu tun.

Das ganze Werk ist ein ungeheures Durcheinander, vieles wird mehrmals behandelt oder vielmehr angeschnitten, denn eine gründliche Behandlung findet man nirgends. Eine theoretische Konzeption ist nicht zu erkennen. Gelegentlich wird von „Transformationen“ und „Tiefenstrukturen“ gesprochen, sie spielen aber keine tragende Rolle. Zellig Harris wird immer wieder erwähnt, aber ohne Folgen. Der Abschnitt über „Syntaxtheorien“ verdient seinen Titel nicht.

Für den gedankenflüchtigen Charakter des Buches ist folgende Stelle bezeichnend:

„Die Satzarten spielen also in gesprochener und in geschriebener Sprache eine ganz verschiedene Rolle. Die gesprochene Sprache zeigt das ganze Spektrum der charakterisierten Satzarten. Die folgende Bildergeschichte mag die Spannweite andeuten. Sie spricht für sich, auch im Bezug auf die Rolle von Frau und Mann in Witzen.
In der informellen Alltagssprache geht es nämlich oft um Situationen, deren Darstellung nicht gender-gerecht ist, wie in dem folgenden Witz:“

Und dann folgt endlich die zweimal angekündigte, leicht anzügliche Bildergeschichte, die nur in loser Beziehung zum Thema der Satzarten steht, nicht weiter interpretiert wird (wohl weil sie „für sich selbst spricht“) und im übrigen anscheinend aus einem vielleicht 100 Jahre alten Simplicissimus stammt (entnommen, wie die meisten Beispiele, aus einem humoristischen Sammelwerk von Dick/Wolff). Was hat aber die Genderfrage mit den Satzarten zu tun? Gar nichts, es ist bloß eine der zahllosen sprunghaften Verbindungen, die dem Verfasser einfallen. (Im Wikipedia-Eintrag über den 2012 verstorbenen Verfasser ist dieses Werk nicht angegeben.)


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