26.12.2016


Theodor Ickler

Auslegungssache

Zur Hermeneutik

Wie ich gerade sehe, habe ich vor vielen Jahren einmal eine kurze Zusammenfassung der geheimnisumwitterten "Hermeneutik" versucht und rücke sie hier ein:

Grundgedanken der Hermeneutik nach Gadamer u. a.

Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen und Erklären („Auslegen“) zeichenhafter Gebilde (Texte, Kunstwerke). Nach Auffassung vieler Philosophen ist sie das geisteswissenschaftliche Verfahren schlechthin, im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Methoden.
In den dogmatischen Wissenschaften wie Theologie und Rechtswissenschaft erkennt der Interpret die Autorität des gegebenen Textes an, betrachtet ihn also nicht (nur) historisch-philologisch. Gadamer überträgt dieses Verhältnis (zur Vorbildlichkeit von Theologie und Rechtswissenschaft vgl. Hist. Wb. d. Philos. 1069) auf die Interpretation von Kunstwerken: Auch darin komme ein „Anspruch“ an den Rezipienten zur Geltung. Ohne dessen Anerkennung könne man sie nicht richtig verstehen. Dem entspricht der Glaube bei der Interpretation religiöser Texte: Nach Bultmann kann man die Bibel nur dann verstehen, wenn man sie als Gottes Wort versteht, wenn man also den christlichen Glauben hat. Gadamers „Anerkennung“ und Bultmanns Glaube sind also zwei Formen des „vorgängigen Verhältnisses“ zum Text, eine „Betroffenheit“ durch ihn. Bei Kunstwerken zeigt sich der Geltungsanspruch an einer gewissen „Ergriffenheit“. (Gadamer zitiert auch Emil Staigers Formel für die Aufgabe des Geisteswissenschaftlers „Begreifen, was uns ergreift“.) Kunst wird als Offenbarung erlebt, in der sich eine „Wahrheit“ ausdrückt, freilich von anderer Art als die naturwissenschaftliche (die Gadamer immer etwas geringschätzig behandelt).

„Die Grundvoraussetzung der hermeneutischen Aufgabenstellung, die man nur nicht recht wahrhaben wollte und die ich wiederherzustellen versuchte, war von jeher die Aneignung eines überlegenen Sinnes.“ (WuM II:264)

Man könnte den Unterschied so fassen: Die historisch-philologische Forschung will feststellen, wie ein Text vom Verfasser gemeint war, welche historischen Voraussetzungen zu ihm geführt haben und wie er auf die damaligen Adressaten gewirkt hat (vielleicht auch auf spätere Rezipienten: Wirkungsgeschichte). Die dogmatische Interpretation fragt danach, was der Text uns hier und heute zu sagen hat („Applikationsanspruch, der von der Überlieferung erhoben wird“ WuM 345). Das ist wegen der Wandelbarkeit der Rezipienten für jeden einzelnen und für jede Epoche immer wieder etwas anderes, so daß die Interpretation nie zum Ende gelangt.

Die Verstehensvoraussetzungen, die wir an den Text herantragen, sind nun ihrerseits durch ebendiesen Text (mit)erzeugt, sie sind ein Ergebnis der Wirkungsgeschichte des Textes, den wir verstehen wollen. Der Gläubige ist durch die Bibel (auf welchen Umwegen auch immer) zum Glauben gekommen, der Rezipient der Klassikertexte ist (u. a.) durch diese Texte zu dem geworden, was er ist usw. Man könnte geradezu sagen: Der Text legt sich durch die von ihm geprägten Menschen nach und nach selbst aus. Das kann man auch auf das Verstehen der Geschichte anwenden: Wir sind, wenn wir die Geschichte zu verstehen versuchen, durch diese Geschichte selbst geprägt.

Die historisch-philologische Distanzierung („Historismus“) erscheint aus dieser Sicht nicht nur als Verfahrensfehler, sondern als Sündenfall. Nach Gadamer „zerstört, wer sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung herausreflektiert, den wahren Sinn dieser Überlieferung.“ (WuM II: 366)

Wir sind von Natur Kulturwesen. Es gibt keinen Menschen, der nicht durch Überlieferung und zeichenhaften Umgang mit anderen geprägt wäre. Als Personen sind wir also unauflöslich in Zeichenwelten eingebettet. Verstehen ist daher die menschliche Weise, in der Welt zu sein. Der Rest ist Hantierung mit Dingen („Zeug“ nach Heidegger).

„Alle Welterkenntnis ist sprachlich vermittelt.“ (Gadamer in: Hist. Wb. 1072)

Auf diesem universellen Anspruch der Hermeneutik beruht ein ebensolcher der Rhetorik, die sich heute ebenfalls stark auf Gadamer stützt.

Textauslegung in diesem höheren Sinn kann also nicht gelingen, wenn man seine eigenen Verstehensvoraussetzungen („Vorurteile“, hier positiv zu verstehen) abzulegen versucht:

„Die Forderung, daß der Interpret seine Subjektivität zum Schweigen bringen, seine Individualität auslöschen müsse, um zu einer objektiven Erkenntnis zu gelangen, ist also die denkbar widersinnigste.“ (Bultmann in Gadamer/Boehm (Hg.): Philos. Hermeneutik. Frankfurt 1976, S. 255).

Vgl. auch:

„Es gilt nicht, das Vorverständnis zu eliminieren, sondern es ins Bewußtsein zu erheben, es im Verstehen des Textes kritisch zu prüfen, es aufs Spiel zu setzen, kurz es gilt: in der Befragung des Textes sich selbst durch den Text befragen zu lassen, seinen Anspruch zu hören.“

Und:

„Wie die Interpretation eines Werkes der Dichtung und der Kunst nur dem gelingen kann, der sich ergreifen läßt, so das Verstehen eines politischen oder soziologischen Textes nur dem, der von den Problemen des politischen und sozialen Lebens bewegt wird.“ (ebd. 256)

Zur Rehabilitation des „Vorurteils“ vgl. noch:

„Das grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung.“ (WuM I:275)

Unter Juristen versteht sich von selbst, daß der normative Text nicht nur so ausgelegt wird, wie die Verfasser ihn verstanden haben. Die Kontinuität der Rechtspflege verlangt, daß das Gesetz auf immer neue Sachverhalte angewandt wird, von denen die Verfasser noch nichts wissen konnten. Diese fortlaufende „Applikation“ (d. h. „die Anwendung von etwas Normativem auf den Einzelfall“ (WuM II:427) auf immer neue Lebensverhältnisse überträgt Gadamer auf alle überlieferten Texte:

„Die psychologische Grundlage der idealistischen Hermeneutik erwies sich als problematisch: Erschöpft sich der Sinn eines Textes wirklich in dem ‚gemeinten‘ Sinn (mens auctoris)? Ist Verstehen nichts als die Reproduktion einer ursprünglichen Produktion? Daß das für die juristische Hermeneutik, die eine offenkundig rechtsschöpferische Funktion ausübt, nicht gelten kann, ist klar.“ (Gadamer in Hist. Wb. 1067)

„Das eigentliche [hermeneutische] Geschehen ist dadurch (...) ermöglicht, (...) daß das Wort, das als Überlieferung auf uns gekommen ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft, als rede es zu uns und meine uns selbst.“ (WuM I:465f.)

Vgl. auch:

„Die Aufgabe des Interpreten ist in concreto niemals eine bloße logisch-technische Ermittlung des Sinnes beliebiger Rede, bei der von der Frage der Wahrheit des Gesagten ganz abgesehen würde. Jede Anstrengung, den Sinn eines Textes zu verstehen, bedeutet das Annehmen einer Herausforderung, die der Text darstellt. Sein Wahrheitsanspruch ist noch dann die Voraussetzung der gesamten Anstrengung, wenn im Ergebnis bessere Erkenntnis zur Kritik daran führt und den verstandenen Satz als falsch erweist.“ (WuM II:285)

Nach Bultmann geht es darum, die überlieferte (biblische) Erzählung nicht historisch-distanziert als „Mythos“ aufzunehmen, sondern als „Botschaft“, „existenziale Anrede“, „Anruf“, „Appell“ – also als Wort, das zu uns gesprochen wird. Diese Voraussetzung, also der Glaube, wird auch als „Lebensverhältnis zwischen dem Ausleger und der auszulegenden Sache“ (Ernst 1972:38) bezeichnet.

Am heutigen Philologen kritisiert Gadamer:

„Er hat (...) den Anspruch aufgegeben, als besäßen seine Texte für ihn eine normative Geltung. Er sieht dieselben nicht mehr als Vorbilder des Sagens und in der Vorbildlichkeit des Gesagten.“ (WuW II:342)

Nähe der Hermeneutik zur Übersetzung:

„Die Leistung der H. besteht grundsätzlich immer darin, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt‘ in die eigene zu übertragen.“ (Gadamer in: Hist. Wb. 1061)

Das Grundverhältnis der Fremdheit ist durch die fremde Sprache nur gesteigert, aber nicht wesensverschieden von der gewöhnlichen Beziehung zu historisch oder kulturell entfernten Texten überhaupt.

Zur Kritik:

Es wird nicht klar, wie der behauptete „Geltungsanspruch“ der überlieferten Texte zu einer „Verbindlichkeit“ für den heutigen Leser führen kann (naturalistischer Fehlschluß). Wieso erhebt die Überlieferung überhaupt einen „Anspruch“? Sehr oft verwendet Gadamer deontische (verpflichtende) Redeweisen wie es gilt usw., ohne sich zu einer näheren Begründung verpflichtet zu sehen. In Wirklichkeit geht es nur um den Willen des Rezipienten, sich von den Texten etwas Verbindliches sagen zu lassen.

Außerdem hat man die Verschwommenheit der Gadamerschen Begriffe und seine Distanz zu wissenschaftlichen Begründungen und Beweisen kritisiert:

„Gadamers durchgängiger Verzicht auf eindeutige Begriffsbestimmungen ebenso wie auf deutliche Argumentationen macht ein Verständnis seiner Schriften und eine Auseinandersetzung mit ihnen schwierig; darüber ist er sich auch im klaren, jedoch nicht bereit, darin nur einen ‚Mangel‘ zu sehen.“ (Beate Rössler: Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik. Berlin 1990:244)

„Die anti-aufklärerische Haltung Gadamers, die in solchen und ähnlichen Passagen [gemeint ist die Rehabilitation von Vorurteil und Tradition] zum Ausdruck kommt, ist zum Teil nur schwer erträglich, zumal wenn sie mit einer dezidierten und argumentativ nicht plausiblen Legitimation von Autorität als solcher einhergeht.“ (ebd. 266)

Beispiele für die charakteristische Vagheit Gadamers findet man praktisch auf jeder Seite:

„Lebendiges ist nicht von der Art, daß man von außen her je dazu gelangen könnte, es in seiner Lebendigkeit einzusehen. Die einzige Weise, Lebendigkeit zu erfassen, ist vielmehr die, daß man ihrer inne wird.“ (WuM I:239)

Was heißt etwas in seiner Lebendigkeit einsehen, erfassen, inne werden? Zugleich pflegt Gadamer einen eigentümlich getragenen Ton, der manchmal bis zum Leerlauf geht:

„Die Ubiquität der Rhetorik ist eine unbeschränkte.“ (WuM II:237)

Sätze wie Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache zitiert er immer wieder, so gut scheinen sie ihm zu gefallen; aber was bedeuten sie eigentlich?

Literatur:

Bultmann, Rudolf (1960): Glauben und Verstehen. 3. Band. Tübingen. (Auszüge auch in: Gadamer/Boehm (Hg): Philosophische Hermeneutik. Frankfurt 1976).
Ernst, Josef (Hg.) (1972): Schriftsauslegung. Paderborn.
Gadamer, Hans-Georg (1974): „Hermeneutik“. Hist. Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4, Basel.
Gadamer, Hans-Georg (1986): Wahrheit und Methode II: Ergänzungen, Register. Tübingen. (Ges. Werke 2)
Gadamer, Hans-Georg (1990/1960): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen.
Nassen, Ulrich (Hg.): Klassiker der Hermeneutik. Paderborn u.a. 1982.


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