21.12.2013


Theodor Ickler

Kasusnamen

Die lateinischen Namen der Kasus sind zutreffend übersetzt

Über die Herkunft der lateinischen Kasusbezeichnungen gibt es in deutschen, aber auch anderen sprachwissenschaftlichen Werken zahlreiche Behauptungen, die nicht auf hinreichender Quellenkenntnis beruhen und teilweise geradezu falsch sind.
Die lateinischen Namen der Kasus sind offensichtlich aus dem Griechischen übersetzt – bis auf den Ablativus, den es im Griechischen nicht mehr gab. (Er liegt zum Teil in griechischen Adverbien vor, wie Aristoteles intuitiv erkannte, der sie für Kasus von Adjektiven erklärte.)
"Casus" gibt gr. "ptosis" wieder, dt. buchstäblich als "Fall" übersetzt. Nach Ernst Sittig (Das Alter der Anordnung unserer Kasus und der Ursprung ihrer Bezeichnung als „Fälle“. Stuttgart 1931) nimmt diese Metapher auf das Würfelspiel Bezug, das in der Antike teilweise mit Astragalen, bestimmten Knochen aus dem Sprunggelenk des Schafs gespielt wurde (fotografische Abbildungen finden sich in Sittigs Text). Platon und Aristoteles gebrauchen "ptosis" im Zusammenhang mit "kybos" (Würfel). Der Nominativus (ptosis orthe, casus rectus) ist eigentlich gar kein „Fall“ und wurde auch von Aristoteles nicht als Fall angesehen, worin ihm aber die Stoiker nicht folgten, die das Drei-Kasus-System durch ein Vier-Kasus-System ersetzten.

Betrachtet man die griechischen Kasus näher, so zeigt sich, daß sie alle an Personenbezeichnungen exemplifiziert und nach solchen exemplarischen Verwendungen benannt sind.

Der Genitiv heißt "ptosis genike" (von "genos" oder "ktetike" (von "ktasthai" 'erwerben'), weil bei einem Personennamen entweder die Abkunft (als Vatersname) oder – bei Unfreien – der Besitzer erwähnt wurde, um eine eindeutige Identifikation zu ermöglichen. Im Handbuch der deutschen Grammatik von Hentschel/Weydt (1990) 151ff. wird "Genetiv" zunächst richtig auf genus "Geschlecht, Herkunft" zurückgeführt, dann aber auf das griech. Vorbild genike ptosis "die Gattung bezeichnend", im Sinne von "allgemein". Das ist falsch, ebenso übrigens die Herleitung von Ablativ von "afferre". Richtig wäre "auferre", also gerade das Gegenteil. Ähnlich Oskar Erdmann/Otto Mensing: Grundzüge der deutschen Syntax. Bd. 2, Stuttgart 1898:177 über den Genetiv: darunter sei eigentlich die "Bezeichnung der Gattung" zu verstehen gewesen (nach Hübschmann). Walter Flämig behauptet gar: "Der Genitiv (lat. genitivus 'angeboren', unrichtige Übersetzung aus dem Griechischen)" (Grammatik des Deutschen. Berlin 1991:466)

Der Dativ hieß "ptosis dotike" oder "epistaltike", alse 'Gebe-' oder 'Briefkasus', weil typischerweise der Empfänger einer Gabe oder eines Briefs (nämlich in der Anschrift) im Dativ genannt wurde.

Der Akkusativ hat am meisten Diskussion hervorgerufen, und ihm gilt auch eine Abhandlung von Ernst Kapp ("Casus accusativus". Fs. Bruno Snell. München 1956:15-21). Der lateinische Ausdruck übersetzt gr. "ptosis aitiatiké", 'Beschuldigungs-' oder 'Anklagefall', weil der Beschuldigte in einem Gerichtsverfahren typischerweise im Akkusativ genannt wurde.
Allgemein verbreitet hat sich die Auffassung, die Römer hätten den griechischen Ausdruck nicht verstanden und falsch übersetzt, denn es hätte eigentlich "Verursachungsfall" (nach gr. aitia) heißen müssen:
"Akkusativ (...) eine Fehlübersetzung der Römer, die die griechischen Wörter für 'anklagen' und 'bewirken' verwechselten." (Folke Freund/Birger Sundqvist in DaF. An den Quellen eines Faches. Fs. Helbig. München 1995:147, mit Verweis auf Bußmann, Knobloch, Stammerjohann). Duden Universalwörterbuch: "Ak|ku|sa|tiv, der; -s, -e [lat. (casus) accusativus = die Anklage betreffend(er Fall), zu: accusare = anklagen; falsche lat. Übersetzung von griech. (ptosis) aitiatike = Ursache u. Wirkung betreffend(er Fall)]" - Dieselbe These bei Christa Dürscheid: Die verbalen Kasus des Deutschen. Berlin 1999, bei Barry L. Blake: Case. Cambridge 1994; Konrad Ehlich in Ludger Hoffmann, Hg.: Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin 2007:58 und vielen anderen, die alle voneinander abschreiben.
Damit wäre allerdings kein Bezug auf eine Person mehr gegeben wie bei den anderen Kasus. Und was soll "Ursache und Wirkung betreffend" denn nun heißen? Im Akkusativ könnte doch allenfalls das Bewirkte stehen, nicht die Ursache. Vor allem aber ist es von vornherein unwahrscheinlich, daß die römischen Grammatiker, die wie die meisten gebildeten Römer das Griechische bis zur Zweisprachigkeit beherrschten, einer so schlichten Verwechslung zum Opfer gefallen sein könnten.

Der Vokativ galt den Stoikern nicht als Kasus, sondern als eigener Satz, ebenso wie den altindischen Grammatikern.

Interessant ist noch diese Parallele: Wie die griechischen und lateinischen Kasusmodelle sich auf die menschliche Person in ihren typischen Rollen bezogen, so die altindische Kasustheorie auf das vedische Opfer als Modellhandlung. Den einzelnen Komponenten, die an der Opferhandlung teilhatten, wurden die Karakas – Kasusrollen – zugewiesen, diesen dann die Vibhaktis (Kasusendungen).


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