09.11.2013


Theodor Ickler

Ein Jüngling liebt ein Mädchen

Über Sprachverführtheit und naive Semiotik

The man loves the girl. – Hier gehe es um eine „Gefühlsregung seitens des Mannes, welche auf die Frau gerichtet ist.“ (Theo Herrmann/Joachim Grabowski: Sprechen. Psychologie der Sprachproduktion. Heidelberg 1994:49)
Da es keinen Grund gibt, in einem deutschen Text englische Beispielsätze zu verwenden, sagen wir: Ein Jüngling liebt ein Mädchen.
Phänomenologen und ebenso sprachverführte Psychologen würden sagen: Der Jüngling befindet sich in einem gerichteten Zustand. Leider kann man sich unter einem gerichteten Zustand nichts vorstellen.
Wir sagen einfach: lieben ist ein transitives Verb. Bedenkt man genauer, was alles zur Verliebtheit gehört, wird man nicht so leicht meinen, es handele sich um etwas auf die Frau Gerichtetes. Das Verhalten des Mannes wird in vieler Hinsicht durch die Frau gesteuert. Zuerst wird er vielleicht einige Umwege in Kauf nehmen, um sie wenigstens von ferne zu sehen. Sein Puls beschleunigt sich, er wird rot, wenn er mit ihr spricht (ich spreche natürlich von früheren Zeiten, aus denen auch Heines Gedichtzeile stammt). Usw.

Aus der Dudengrammatik:
Der Wetterdienst rechnete mit Gewittern.
Hier schreibt die Dudenredaktion den Gewittern die Rolle des „betroffenen Sachverhalts“ zu. Aber die Gewitter spielen gar keine Aktantenrolle. Der Wetterdienst formuliert gewisse Sätze, die das Verhalten der Hörer beeinflussen können. Er tut nichts mit den Gewittern, die es ja auch noch gar nicht gibt. Diese Ansetzung von Pseudoaktanten beruht auf einer überholten Semiotik, die Bedeutung als Bezugnahme (Referenz) auf etwas definiert. Franz Brentano hat daraus die „Inexistenz“ des Redegegenstandes gefolgert, d. h. damit von etwas gesprochen werden kann, muß dieses Etwas mindestens im Geist des Sprechers existieren.

„Wenn wir über etwas reden oder schreiben wollen, muss uns der Gegenstand, über den wir sprechen oder schreiben wollen, kognitiv präsent sein. Es ist plausibel anzunehmen, dass zu jedem Zeitpunkt der unmittelbare Gegenstand der gegenwärtigen Sprachäußerung im Arbeitsgedächtnis ist.“ (Klaus Oberauer/Ina Hockl in: Enzyklopädie der Psychologie: Sprache 1 – Sprachproduktion. Hg. von Theo Herrmann und Joachim Grabowski. Göttingen u. a. 2003:365)
Das ist eine von vielen hundert Formulierungen eines der folgenschwersten Irrtümer der naiven Semiotik. Die Alternative, die uns davon befreit, findet man z. B. in Skinners „Verbal behavior“:

Wo bleibt der Orangensaft? Am Frühstückstisch geäußert, scheint das Wort Orangensaft sich auf den abwesenden Orangensaft zu beziehen. Aber in der Natur gibt es kein Sichbeziehen. Das Wort wird auch nicht von einem gar nicht anwesenden Orangensaft gesteuert (= das Wort taktet keinen Orangensaft), sondern von den anderen Dingen auf dem Frühstückstisch, die ausreichen, auch die Reaktion Orangensaft zu steuern. Ist man die Referenz und die darauf gegründete falsche Semiotik los, ist man zugleich die Intentionalität los, samt Geist usw.


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