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12.06.2005
 

Hans Krieger
Das Richtige gilt bald als Fehler
Die Kultusminister mißachten erneut ihren Rat für deutsche Rechtschreibung

Daß zwei mal zwei fünf sei, glaubt kein Kultusminister. Kein Kultusminister würde ein Schulbuch genehmigen, in dem der Wal zu den Fischen gezählt oder der Nationalsozialismus als Menschenrechtsbewegung dargestellt würde.

Kein Kultusminister würde anordnen, daß das englische Wort „mankind“ vom nächsten Schuljahr an nicht mehr „Menschheit“, sondern „Mannbarkeit“ bedeutet.

Jeder Kultusminister weiß, daß er über die Unterrichtsgegenstände keine Verfügungsgewalt hat, sondern lediglich regeln darf, wann, in welchem Umfang und mit welcher didaktischen Schwerpunktsetzung ein Fach gelehrt werden soll. Nur für die deutsche Sprache scheint das nicht zu gelten. Seit sieben Jahren, in manchen Bundesländern seit neun Jahren, lernen die Schulkinder auf ministerielle Weisung das grammatikalisch und sprachlogisch Falsche.

Sie lernen, daß der „Zierat“ eine Ratsperson für das Zieren ist wie der Baurat fürs Bauen und darum mit doppeltem „r“ zu schreiben ist. Sie lernen, daß der „Tolpatsch“ vom Adjektiv „toll“ abgeleitet sein soll, mit dem er nicht das geringste zu tun hat, und darum keinesfalls mit einem einzigen „l“ geschrieben werden darf; sie lernen, daß man mit einer zutreffenden Ansicht nicht „recht hat“, sondern „Recht hat“, als ginge es um den Besitz von Rechtstiteln. Sie lernen „heute Abend“ zu schreiben, als sei „abend“ hier nicht Temporaladverb, sondern Substantiv, und „im Übrigen“, als ob vom einem Ding „das Übrige“ die Rede wäre, in dessen Innerem etwas stattfindet.

In all diesen Fällen lernen die Schüler nicht nur unsinnige Schreibungen. Sie lernen die Mißachtung von Wortgeschichte, Sprachlogik und Grammatik. Sie lernen, daß es in der Sprache nicht ums Verstehen geht, sondern um stumpfsinnigen Regelgehorsam, auch wider besseres Wissen, und daß es darum wenig ratsam ist, so etwas wie Sprachgefühl oder gar Sprachverständnis zu haben. Wie nennt man es, wenn Kindern das nachweislich Falsche gelehrt wird und sie gehindert werden, eigene Kompetenz aufzubauen? Es fällt schwer, nicht von Verbrechen zu reden.

Vom 1. August 2005 an wird alles noch schlimmer, denn dann endet die Übergangsfrist und damit die Toleranz für „überholte“ Schreibweisen. Wer danach noch „Tolpatsch“ oder „Zierat“ schreibt, „heute abend“, „im übrigen“ oder „wie recht er doch hatte“, der macht einen Fehler und riskiert schlechte Noten, auch wenn er die Gesetze der Sprache auf seiner Seite hat; er wird also bestraft für sein intaktes Sprachempfinden.

So weit hätte es nicht kommen müssen. Mit der Einsetzung des Rates für deutsche Rechtschreibung im Spätjahr 2004 hatten die Kultusminister sich eine letzte Chance gegeben: noch einmal sollte alles überprüft und, soweit nötig, nachgebessert werden. Unter seinem umsichtigen Vorsitzenden Hans Zehetmair hat der Rat gute Arbeit geleistet, aber bis zum 1. August wird er und konnte er nicht fertig werden. Soeben hat er für den besonders umstrittenen Teilbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung die nahezu hundertprozentige Rücknahme der Reform empfohlen und damit die lebendige Sprachwirklichkeit gegen formalistische Regulierungswillkür ins Recht gesetzt. Da die Reformkritiker im Rat eine kleine Minderheit sind und Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit gefaßt werden müssen, ist dies ein eindrucksvoller Beweis für die Überzeugungskraft der besseren Argumente.

Es wäre ein Gebot nicht nur der Fairness, sondern simpler Klugheit gewesen, bis zum Abschluß der Arbeit des Rates die verpflichtende Einführung der Reformschreibung auszusetzen, die Übergangsfrist also zu verlängern. Aber noch während der Rat tagte, bekräftigten die Kultusminister ihren Entschluß, am Termin des 1. August 2005 festzuhalten; lediglich für einige noch „strittige“ Teilbereiche soll darüberhinaus „Toleranz“ gewährt werden. „Strittig“ ist aber nicht, was in der Öffentlichkeit umstritten ist oder im Rat noch behandelt werden soll; die Minister bestimmen es eigenmächtig, und keine der in diesem Artikel zitierten Sprachwidrigkeiten gehört dazu. Aber auch ohne solche Willkür wäre der Beschluß nicht praktikabel. Angesichts der ohnehin schon herrschenden orthographischen Verwirrung sind Schüler wie Lehrer mit der Unterscheidung zwischen „Strittigem“ und „Unstrittigem“ heillos überfordert; es bleibt ihnen nur noch die Flucht in die Resignation und Gleichgültigkeit. Und eine Prozeßlawine droht den Schulen, schon steht in Hannover die erste Klage zur Verhandlung an.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung wird sich in seiner weiteren Arbeit nicht beirren lassen; nicht ihn, sondern sich selbst haben die Kultusminister blamiert und diskreditiert. Aber bis zum 1. August sind es noch sieben Wochen. Ein kleines bißchen Zeit bleibt also noch für verspätete Einsicht. Noch läßt sich der Eindruck wieder zerstreuen, die Kultusminister seien unbelehrbar wie bockige Schulbuben und ohne jeden Sinn für politische und pädagogische Verantwortung.


Quelle: Bayerische Staatszeitung, 10.6.2005


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Kommentare zu »Das Richtige gilt bald als Fehler«
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Kommentar von rrbth, verfaßt am 18.06.2005 um 21.32 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#978

Diese Beobachtung habe ich auch gemacht. Möglichst alle – und darüberhinaus oft falsch umgesetzte – neuen Reformvarianten wurden/werden(?) geschrieben. Das galt/gilt(?) vor allem für Zeichensetzung (und die Auseinanderschreibung).

Ein besonders häßliches, nahezu unlesbar gemachtes, Exemplar ist mir letztes Jahr mit Michael Endes Unendlicher Geschichte untergekommen. Ich als Verleger würde mich schämen. Vielleicht ist Michael Ende ja deshalb _vor_ 1996 gestorben.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 18.06.2005 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#977

Es ist in der Tat schwer, eine Grenze zu ziehen. Es wurde ja schon vorgeschlagen, im Wörterbuch Häufigkeitsangaben bei Zweifelsfällen zu machen. Das Problem ist ja, daß die Tendenz zur Zusammenschreibung in jedem Einzelfall verschieden stark ausgeprägt sein kann, so daß eine systematische Darstellung kaum möglich ist. Bestimmte Zusammenschreibungen sind so etabliert, daß deren Auftrennung fehlerhaft wirkt. Die Icklersche Lösung ist zwar systematisch, andererseits sind eben auch "exotische" Getrenntschreibungen möglich (etwa los legen). Wir haben oft genug Reformschreibungen wie sich wohl fühlen als absurd hingestellt. Die neuesten Beispiele von Herrn Jochems leuchten mir ein, mit den Zitaten Katia Manns hatte ich jedoch Schwierigkeiten. Es gibt auch verschiedene Stilebenen. In dichterischen Texten könnte ich mir manche Getrenntschreibung als sinnvoll vorstellen, die ansonsten recht unüblich ist. Wie man "richtig" schreibt, läßt sich wohl überhaupt nicht vollständig kodifizieren. (Das ist in anderen Bereichen menschlichen Verhaltens das gleiche.) Aber selbst wenn man die Orthographie der Schriftsteller (und nicht der Sachautoren) zu Maßstab erhebt, dann sollte es wenigstens die Orthographie der lebenden Schriftsteller sein.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 18.06.2005 um 12.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#976

Stephan Fleischhauer bezweifelt, ob Katia Manns Schreibungen heute noch als repräsentativ gelten können. Wo sollen wir aber die Grenze ziehen? Literatur, die mit Hilfe von Duden 1991 lektoriert worden ist, kann ja wohl nicht das Kriterium sein. Überhaupt, sollte es nicht andersherum gehen: Der Duden dokumentiert, wie die Schriftsteller schreiben, und nicht: Die Lektorate korrigieren die Schreibung der Schriftsteller anhand der Dudennorm. Wo es eine amtliche Orthographie gibt, grenzt "Andersschreibung" ohnehin an Hochverrat. Es ist ja immer wieder die Getrennt- und Zusammenschreibung, bei der das urdeutsche Regulierungsstreben sein Fiasko erlebt, wie zum Beispiel in der heutigen WELT:

Die Franzosen glauben, daß Brüssel die Märkte zu wenig reguliert, die Briten meinen, es reguliere viel zu viel. [Traditionelle Dudenschreibung: "zuwenig", "viel zuviel", vgl. aber "ebensoviel"; reformiert alles getrennt; nach der Zehetmair-Reform ... ?]

Sind aber die Nationalstaaten nicht auch die besten Garanten der Demokratie, sind nicht transnationale Gebilde den Beweis der Demokratiefähigkeit schuldig geblieben? [So traditionell und reformiert, vgl. aber "übriggeblieben"; nach der Zehetmair-Reform wohl auch "schuldiggeblieben"]

Mit seiner Kleinkammerung ist unser Kontinent weniger als jeder andere Erdraum in der Lage, eine überwölbende Staatlichkeit zustande zu bringen. [So traditionell und reformiert; nach der Zehetmair-Reform wohl auch "zustandezubringen"]

Daraus ließe sich folgern, daß erstens Riesenstaaten wie Rußland einfach nicht in die EU passen, weil sie darin die Größenverhältnisse völlig durcheinander bringen - und daß zweitens die EU aufpassen muß, selbst nicht zu groß zu werden. [Traditionell "durcheinanderbringen", reformiert "durcheinander bringen, nach der Zehetmair-Reform wohl beide Schreibweisen]

Zugleich sind vermeintlich klassische Nationalstaaten wie Italien oder Spanien bis heute nicht mit der vollständigen Integration der Regionen fertig geworden, denken Sie in Italien an die Lega Nord oder in Spanien an die Basken und Katalanen. [Traditionell und reformiert; nach der Zehetmair-Reform wohl auch zusammengeschrieben]



Kommentar von Peter Müller, verfaßt am 18.06.2005 um 12.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#974

Zu Stephan Fleischhauer: Daß wir überall "aufwändig" lesen, haben wir übrigens den Nachrichtenagenturen zu erdanken. Die Reform läßt auch "aufwendig" zu.

Das stimmt nun allerdings kaum. Die Nachrichtenagenturen haben sich bei der Umsetzung der Reform für aufwendig entschieden ([a href =“http://www.dpa.com/info/rechtschr/rsI_index.htm]Wörterliste[/a]). Mindestens dpa hält sich daran, bei sda ist leider nur ein Drittel aufwendig, zwei Drittel sind aufwändig, trotz klaren Weisungen.

Zu Helmut Jochems: Die Bedürfnisse der graphischen Industrie und der Nachrichtenagenturen in Ehren, ihnen wird der Duden gerne ein Spezialwörterbuch zusammenstellen.

Das kann er sich schenken, wenn er im normalen Wörterbuch eine Variantenführung macht. Sie verstehen vielleicht unter Variantenführung etwas anderes, Ich verstehe darunter die Zulassung von Varianten mit Empfehlung für eine Hauptvariante, nicht die Vorschrift einer Variante. Auch Sie haben genau dies vorgeschlagen: Würde man Wörterbuchverlagen mit sprachwissenschaftlich kompetenten Redaktionen und einer modernen Ausstattung zur Sammlung und Sichtung des schriftlichen Sprachgebrauchs die Freiheit lassen, die tatsächlichen Schreibsweisen zu dokumentieren und im Falle von Varianten mit Empfehlungen zu versehen, wäre genug für die Wahrung einer erstrebenswerten (relativen) Einheitlichkeit getan. Eben.


Kommentar von rrbth, verfaßt am 18.06.2005 um 09.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#971

Diese Beobachtung habe ich auch gemacht. Möglichst alle – und darüberhinaus oft falsch umgesetzte – neuen Reformvarianten wurden/werden(?) geschrieben. Das galt/gilt(?) vor allem für Zeichensetzung (und die Auseinanderschreibung).

Ein besonders häßliches, nahezu unlesbar gemachtes, Exemplar ist mir letztes Jahr mit Michael Endes Unendlicher Geschichte untergekommen. Ich als Verleger würde mich schämen. Vielleicht ist Michael Ende ja deshalb _vor_ 1996 gestorben.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.06.2005 um 05.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#970

Nach meiner Beobachtung lassen sich Kinder- und Schulbuchverlage die Neuschreibung "aufwändig" selten entgehen. Es ist dasselbe wie mit der ebenfalls nicht gebotenen Wahl von "selbstständig": man demonstriert Modernität, Reformwilligkeit. Übrigens bietet Google schon fast 1000 Belege für "auswändig".


Kommentar von F.A.Z., 18. 6. 2005, verfaßt am 17.06.2005 um 18.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#969

Leserbrief
Dienstanweisung

Zur Glosse "Die Marktführer" (F.A.Z. vom 6. Juni): Die Deutschlehrer achten die hohe Kompetenz ihrer Kultusminister und werden sie um eine Dienstanweisung bitten, wie sie was genau nach dem 1. August 2005 als Fehler rechtsverbindlich anstreichen sollen.

Hermann Rieke-Bennighaus, Dinklage


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 17.06.2005 um 14.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#965

Daß wir überall "aufwändig" lesen, haben wir übrigens den Nachrichtenagenturen zu erdanken. Die Reform läßt auch "aufwendig" zu.

Noch einmal zur Liberalität: Ich meine, man sollte sie auch nicht übertreiben. Vor einigen Monaten wurden hier Textbeispiele der 1883 geborenen Katia Mann aufgeführt. Es ist die Frage, inwieweit das heute noch repräsentativ ist.


Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 16.06.2005 um 18.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#958

Zum Beitrag von Herrn Müller: Natürlich hat er recht, daß aufwendig von aufwenden abgeleitet ist. Wenn ich so nachdenke, kann ich nur sehen, daß sich alle Adjektive mit -wend- natürlich mit e schreiben. Notwendig, verwendbar, anwendbar, in- und auswendig und auch das einfache wendig. Mit dem dußligen aufwändig ist ein Geist aus der Flasche gelassen, denn tatsächlich ist mir schon des öfteren "aufwänden" begegnet. Und was ist mit dem Schulkind, dem ja sowieso das Denken abgewöhnt werden soll: Wäre es denn ein Wunder, wenn es in Analogie zu aufwändig zu der Erkenntnis kommt, daß es fleißig "auswändig" lernen soll?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 16.06.2005 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#948

Zu Fritz Koch: Mit der Sprachregelung "Varianten" wollen die Reformer nur über einen Umweg ihr altes Ziel erreichen, daß mit der Zeit im allgemeinen Bewußtsein die jetzt noch vorhandenen Bedeutungsunterschiede unterschiedlicher Schreibweisen verschwinden, weil die Reformer bedeutungsunterscheidende Wortschreibweisen als elitär und upper-class-artig ansehen. Über sogenannte Varianten wird die frühere Präzision und Unterscheidungsgenauigkeit nicht wieder erreicht, deren Abschaffung für die Reformer immer noch ein Hauptziel ist.

Zu Peter Müller: Auch die Berufsgruppe graphische Industrie und mit ihr die Nachrichtenagenturen wünschen Normen und keine Varianten. [...] Das Bedürfnis nach so wenigen Varianten wie möglich hat nämlich der alte Duden in fast perfekter Weise erfüllt. [...] Am anderen Ende der Skala ist das berechtigte Bedürfnis, Schüler (und Erwachsene, etwa bei Bewerbungen) nicht zu bestrafen, wenn sie abweichende, grammatisch aber mögliche Schreibweisen verwenden. Das Dilemma kann mit einer Variantenführung behoben werden.

Meine Meinung: Nach alter Dudennorm schreibt man den Weg frei machen, den Oberkörper frei machen, aber den Brief freimachen. Die Reform hat daran nichts geändert, doch nach der von Zehetmairs Rat reformierten Reform sind - dem unentschiedenen tatsächlichen Sprachgebrauch folgend - in allen drei Fällen Getrennt- wie Zusammenschreibung möglich, denn es handelt sich ja stets um "resultative Prädikative". Vor und nach 1996 wurden/werden andererseits Wege freigehalten, erst die Revision der Reform läßt beide Schreibungen zu. Intuitives Schreiben, von dem jetzt wieder viel die Rede ist, fällt den Schreibern nicht auf wundersame Weise zu, es orientiert sich an Analogie und Betonung. Beide führen eigentlich zur Zusammenschreibung. Auseinandergeschrieben stellt sich jedoch bei so geläufigen Verben keine andere Bedeutung ein. Selbst auf die Einladung, getrennt geschriebenes lahm legen falsch zu betonen, fällt wohl niemand herein. Nur wer Einheitlichkeit um jeden Preis will, zwingt hier dem Usus eine Variantenführung auf. Natürlich dachten die Reformer nicht gerade elitär, aber zur Erleichterung für Wenigschreiber waren sie ja gerade bereit, selbst auf dem Umweg über ungebräuchliche Schreibungen Einheitlichkeit herzustellen. Grammatisch falsche oder nicht vom Usus gedeckte Reformschreibungen müssen vom Tisch, darin sind wir uns doch einig. Die Getrennt- und Zusammenschreibung bei Verben und Partizpien ist jedoch das denkbar ungeeignetste Feld, um ein Exempel zu statuieren. Die Bedürfnisse der graphischen Industrie und der Nachrichtenagenturen in Ehren, ihnen wird der Duden gerne ein Spezialwörterbuch zusammenstellen. Uns normalem Fußvolk wolle man aber bitte mit frei machen vs. freihalten vom Leibe bleiben - auch, nein gerade, nach dem Zusammenbruch der Rechtschreibreform.



Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 16.06.2005 um 13.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#947

"Petitessen": nein, denn es ist gerade diese verwirrende Vielfalt von
neueingeführten Ausnahmen, die die vielpropagierte "Vereinfachung
der Regeln" konterkariert. "Schon immer zugelassen": wurde mir anders
gesagt, ich hatte es nicht verifiziert (mea culpa). Zeigt aber auch
nochmal gut die allgemeine Konfusion. Man vergleiche auch Zeitungsmeldungen,
in denen verkündet wird, "leidtun" werde _wieder_ zugelassen.


Kommentar von Peter Müller, verfaßt am 16.06.2005 um 13.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#946

Ja, ja, verehrter Herr Künzer, es hätte im Beispiel natürlich aufwändig heißen müssen, ein Schreibfehler. Und das ist nicht von Aufwand, sondern von aufwenden abzuleiten (das Verb ist die wichtige Wortart). Und wenn wir schon bei den Petitessen sind: aufwendig ist nicht neuerdings wieder zugelassen, sondern war es schon immer.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 16.06.2005 um 12.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#945

"aufwändig" ist verwechselbar mit "aufwandig" (= auf der Wand, Installateur-Fachsprache) und deswegen abzulehnen.


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 16.06.2005 um 12.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#943

Peter Müller: "aufwänden"

Nicht doch - es heißt weiterhin ausschließlich "aufwenden". Dagegen leitet sich "aufwändig" von "Aufwand" ab. Wohingegen neuerdings auch wieder "aufwendig" zugelassen ist. Die Schreibung "auswändig" ist hingegen abwägig.



Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 16.06.2005 um 08.11 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#939

Unter "Varianten" verstehe ich unterschiedliche Wege zum selben Ziel. Wo aber unterschiedliche Schreibweisen beim Leser nicht zum selben Verständnis, sondern zu unterschiedlichen Bedeutungen führen, sind es keine Varianten. Mit der Sprachregelung "Varianten" wollen die Reformer nur über einen Umweg ihr altes Ziel erreichen, daß mit der Zeit im allgemeinen Bewußtsein die jetzt noch vorhandenen Bedeutungsunterschiede unterschiedlicher Schreibweisen verschwinden, weil die Reformer bedeutungsunterscheidende Wortschreibweisen als elitär und upper-class-artig ansehen. Über sogenannte Varianten wird die frühere Präzision und Unterscheidungsgenauigkeit nicht wieder erreicht, deren Abschaffung für die Reformer immer noch ein Hauptziel ist.


Kommentar von Peter Müller, verfaßt am 16.06.2005 um 02.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#938

Ursula Morin: Man sollte nicht vergessen, daß Sprache für bestimmte Berufsgruppen - wie für mich als Übersetzer - eben auch ein Produkt ist, das verkauft werden will. ... Ich würde es begrüßen, auch Kommentare zu diesem eher praktischen Aspekt zu erhalten - der meine sowieso recht mühsame Arbeit unnötigerweise erschwert.

Den Beitrag von Frau Morin habe ich geschätzt. Auch die Berufsgruppe graphische Industrie und mit ihr die Nachrichtenagenturen wünschen Normen und keine Varianten. Das hat nichts damit zu tun, „heimlich auf eine Norm zu schielen, die es zu erfüllen gilt“. Solange in den Verlagen eine einheitliche Schreibweise angestrebt wird, sind Varianten schlicht kostentreibend; sie führen zu Unsicherheiten, Nachfragen, dazu, daß Manuskripte umgeschrieben werden müssen, unter Umständen mehrmals, wenn ein Journalist für mehrere Medien mit unterschiedlichen Hausorthographien arbeitet. Varianten machen zudem die maschinelle Verarbeitung von Texten (Recherche, Rechtschreibprogramme usw.) schwieriger und teurer.

Die Nachrichtenagenturen deshalb im Reform-Duden: „Wichtigstes Ziel war, die Rechtschreibung im Sinne der (gemeinsamen) Kunden nicht nur einheitlich, sondern auch eindeutig festzulegen“ (S. 115). „Einheitlich“ und erst recht „eindeutig“ heißt: keine Varianten oder doch so wenige wie möglich. Das unübersehbare Wohlwollen der Nachrichtenagenturen gegenüber der Reform, das sich unter anderem in einer unnötig frühen Umsetzung geäußert hat, wird nun, da die Reform und der Rechtschreibfriede offenbar nur noch mit einer exzessiven Vermehrung der Variantenschreibung zu retten sind, zum Bumerang für sie.

Das Bedürfnis nach so wenigen Varianten wie möglich hat nämlich der alte Duden in fast perfekter Weise erfüllt. Sie dürfen deshalb, geehrter Herr Wrase, sogar Reformkritiker ernstnehmen, die die alte Duden-Norm wiederherstellen möchten. Eines ist jedenfalls sicher: Für die Reform gab es keine Notwendigkeit, und falls von ihr ein paar Verbesserungen übrigbleiben, werden sie in einem krassen, absurden Mißverhältnis zu den Kosten stehen.

Am anderen Ende der Skala ist das berechtigte Bedürfnis, Schüler (und Erwachsene, etwa bei Bewerbungen) nicht zu bestrafen, wenn sie abweichende, grammatisch aber mögliche Schreibweisen verwenden.

Das Dilemma kann mit einer Variantenführung behoben werden.

Über grammatisch Falsches (Leid tun, Recht haben, noch Besorgnis erregender, das 8-Fache), falsch Abgeleitetes (einbläuen, Quäntchen), falsch Getrenntes (he-rauf, Psy-chiater), über die ohne triftigen Grund vorgenommene, willkürliche Veränderung vertrauter Wortbilder (aufwänden, Stängel) und über eine Zeichensetzung, die Nebensätze und Appositionen unkenntlich macht, braucht man nicht zu diskutieren, es ist inakzeptabel.

Die Veränderung der ß-Regel ist dumm, weil sie neben der Schweizer und der bisherigen Schreibweise eine dritte Variante einführt und damit die Chance für die propagierte Einheitlichkeit verspielt. Es gibt nur zwei vernünftige Wege: Beibehaltung der bisherigen Regelung oder Abschaffung des ß wie in der Schweiz.

Davon abgesehen, könnte man das Problem folgendermaßen darstellen:

Schreibweisen müssen bekanntlich zugunsten stolperfreien Lesens und um Mißverständnisse möglichst zu vermeiden, in der Sprachgemeinschaft vereinbart werden. Die Vereinbarung hat einen verbindlichen und einen freiwilligen Teil.

Nur der verbindliche Teil, der Kern, kann eigentlich als Rechtschreibung bezeichnet werden und ein Verstoß dagegen als Fehler. Bot ist falsch (trotz gleichlautendem Not) und Noot ist falsch (trotz gleichlautendem Boot). Nur dieser verbindliche Teil darf bei Schülern notenwirksam moniert werden.

Der unverbindliche Teil ist eine Schreibweisen-Vereinbarung; sie kann man in drei Kategorien einteilen:

1) Schreibweisen, die sich durchgesetzt haben und wo eine früher noch akzeptierte Variante fallengelassen worden ist: Büro; deswegen ist Bureau aber nicht falsch, sondern höchstens eine zu tolerierende Nichtbeachtung der Vereinbarung.

2) Schreibweisen, bei denen es eine Hauptvariante, also eine Variantenführung gibt (Telefon, auch: Telephon).

3) Schreibweisen, bei denen es (noch) keine Hauptvariante gibt (radfahren/Rad fahren). Die Anzahl solcher Schreibweisen ist so gering wie möglich zu halten. Bei Bedeutungsunterschieden sind sie zu vermeiden.

Für den Entscheid, wann ein Ausdruck \"aufsteigt\", brauchen wir ein Gremium; das könnte der Rat für deutsche Rechtschreibung sein. Er hätte in erster Linie den Usus zu berücksichtigen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 16.06.2005 um 00.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#933

Zu einem luftigen philosophischen Parlando über die Orthographie als Erkenntnisgegenstand zieht mich dieses Wissen leider nicht empor, schon gar nicht, wo wir bis vor wenigen Jahren eine klaglos funktionierende Rechtschreibung hatten.
Wieviel Wissen über die eigene Sprache gehört bei uns zur Allgemeinbildung? Im Fremdsprachenunterricht ist die Beschäftigung mit der Grammatik eine Selbstverständlichkeit, allerdings mit der leichten Verfremdung, daß die entsprechende Terminologie auf englisch bzw. französisch erworben wird. Wie viele gebildete Deutsche wissen andererseits (und deshalb), was ein "resultatives Prädikativ" ist? Vermutlich sind es wenige. Wie soll unter diesen Umständen der Öffentlichkeit vermittelt werden, was Herrn Zehetmairs Rat beschlossen hat? Herrn Icklers Kritischer Kommentar eignet sich ebenfalls nicht zur allgemeinen Lektüre, erschließt sich aber den wirklich Interessierten, die sich die Mühe des Einarbeitens machen. Wer wußte schon vor seiner Kritik an der Neuregelung der Schreibung von Verbindungen mit Verben, was eine "Univerbierung" im Unterschied zu einer Zusammensetzung ist? Im Lichte dieser Präzisierung erhalten die Dudenspitzfindigkeiten in diesem Bereich ein anderes Gewicht. Es war doch wirklich ein mißlicher Zustand, daß selbst für häufig gebrauchte Verben die normierte Schreibung im "amtlichen" Wörterbuch nachgesehen werden mußte. Souveräne Naturen haben sich mit solchen Kinkerlitzchen nicht abgegeben, anderen hätte Herrn Icklers Hinweis auf die "Fakultativität" der Schreibung in solchen Fällen geholfen. Von einer "klaglos funktionierenden Rechtschreibung" erwartet man doch eigentlich, daß sich die richtigen Schreibungen intuitiv und spontan einstellen. Das war nach meiner Erfahrung vor 1996 nicht der Fall, wurde durch die Reform eher schlimmer (zumal nun erkennbar unsinnige Schreibungen als Norm gelten) und wird nach Herrn Zehetmairs Reformen der Reform nicht besser sein. Kürzlich forderte die Leitartiklerin der Sächsischen Zeitung "Rechtschreibfreiheit". Es gibt nicht wenige Kritiker der Rechtschreibreform, die auch gegen diese "Freiheit" sind, weil sie sie mit "Beliebigkeit" verwechseln, aber "Toleranz" steckt da schon mit drin. Wer es unerträglich findet, daß ab 1. August hochgestellte Ignoranten die tradionellen deutschen Schreibungen für "falsch" erklären, sollte seinerseits die Großmut aufbringen, das "Schloss" und selbst die "Brennnessel" der Reformanhänger nicht für absurd zu halten. Es wird noch lange über die Rechtschreibung zu diskutieren sein, aber ohne das "luftige philosopische Parlando" als Frucht der bisherigen Auseinandersetzung geht das nun einmal nicht.



Kommentar von Heinz Erich Stiene, verfaßt am 15.06.2005 um 10.18 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#926

Vor längerer Zeit las ich Heimito von Doderers Roman "Die Wasserfälle von Slunj", der 1963 im Verlag Biederstein in München erschienen war. Er wies, wie ich mich erinnerte, einige orthographische Eigenwilligkeiten auf, denen ich jetzt noch einmal nachgegangen bin, im Schnelldurchgang allerdings. Hier eine gleichermaßen zufällige wie unsystematische Blütenlese der ersten einhundert Seiten:
Trübsäligkeit
in's, durch's (immer)
Genitiv-Apostroph: Rita's, Bachler's (immer)
Scheeren (eines Krebses, mehrfach, dazu auch "das scheerige Ungetüm")
ohneweiteres
garnicht
Chwostik war kein veränderungs-süchtiger Mensch
kein ausschlag-gebendes Zünglein an der Wage
wagrecht
Zierrat (!)
kennen zu lernen
die Arztensgattin
Bureau
die grünen Rouleaux
Usw. usw. Hinzu kommt das durchgehend verwendete C in Fremdwörtern wie Curiosität, Doctor, articulieren, convenieren usw.

Warum ich das hier ausbreite? Weil man in Doderers Roman auf nicht wenige sog. Fehler trifft. Oder auch auf künstlerische Freiheit, je nach Standpunkt eben. Als halbwegs erfahrener Leser und Schreiber weiß ich die Auffälligkeiten zu gewichten; ins orthographische Grübeln gerate ich darob nicht. Damit stehe ich aber – bitte wohlverstanden! – mit einem literarisch interessierten, gebildeten Publikum in einer eigenen Welt, an einem eigenen Lustort sozusagen, wo man sich wissend zulächelt, während sich unterdessen die Massen draußen auf der Straße tummeln. In dieser, meiner, Welt darf ich nach leichter Herzenslust über jeden Gegenstand philosophieren, auch über die Rechtschreibung: mal zähmt mich hier die strenge Norm, mal lockert dort die freundliche Empfehlung ihre Zügel, und überall zieht mich lockend die Freiheit hinaus.

Warum ich das nun wieder ausbreite? Weil die Massen auf der Straße draußen eben auch noch da sind. Ein Heimito von Doderer konnte sich Trübsäligkeit und Scheere leisten. In der Schule war diese Exklusivität ein Fehler; vermutlich ist sie dort allerdings niemals zu Buche geschlagen. Künftig aber wird es in den meisten Texten mit literarischem Anspruch von Fehlern nur so wimmeln, weil es, um ein Wort Theodor Icklers abzuwandeln, eine Schulorthographie gibt, die die Werke der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren und seriöse Fachbücher als 'falsch geschrieben' erscheinen läßt. Die mag, wie Ickler hinzugefügt hat, sich selbst erledigen; ein unhaltbarer Zustand bleibt das alles trotzdem. Wo die Verantwortlichen sitzen und wes Geistes Kind sie und ihre Motive sind, wissen wir dank Herrn Ickler bestens. Zu einem luftigen philosophischen Parlando über die Orthographie als Erkenntnisgegenstand zieht mich dieses Wissen leider nicht empor, schon gar nicht, wo wir bis vor wenigen Jahren eine klaglos funktionierende Rechtschreibung hatten. Wie bizarr die Lage ist, möge folgendes Beispiel erhellen. Noch in der vergangenen Woche erhielt mein Sohn im Deutschunterricht Materialien in normaler Rechtschreibung (Geßlerhut!). In wenigen Wochen schon müßte die Lehrerin diese von ihr frisch verausgabten Texte als fehlerhaft bewerten. Freiheit für die Schreibenden? Ich hoffe nur, die Lehrerin wird den Teufel tun.



Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 15.06.2005 um 03.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#925

Punkt, Schlag, Uhr.

Nachtrag zu Punkt 9 Uhr: Ich hatte nicht erwähnt, daß es auch die Parallele Schlag 9 Uhr gibt. Da funktioniert die Kleinschreibung nicht: schlag 9 Uhr, da sieht schlag zu sehr einer Verbform aus, weil das bei Kleinschreibung mit überwältigender Regelmäßigkeit sonst der Fall ist. Somit brauchen wir die Großschreibung Schlag 9 Uhr, selbst wenn hier eine gewisse adverbiale Qualität vorliegt. Man muß sozusagen daran erinnert werden, daß es sich um den Uhrschlag handelt und nicht um einen Imperativ schlag. Ein gewichtiges Argument in systematischer Hinsicht, auch bei Punkt 9 Uhr die Großschreibung vorzuziehen.

In diesem Zusammenhang finde ich den Hinweis von Professor Ickler hilfreich, daß sich ein Wechsel der Wortart oder ein Übergangszustand zwischen Wortarten nicht zugleich in der Groß-/Kleinschreibung niederschlagen muß. Sonst könnte man auch gleich daran zweifeln, ob hier Uhr überhaupt großgeschrieben gehört, vgl. Uhr = o'clock = auf der Uhr, also vielleicht ein Adverb? Teilweise ein Adverb? Das spielt hier keine Rolle; es geht darum, was der Leser am besten erfaßt, und das spüren die Schreibenden, weil es zugleich die Leser sind.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 14.06.2005 um 15.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#924

Herr Lachenmann hat kürzlich die Aktivitäten des Rats für deutsche Rechtschreibung mit den Bemühungen fleißiger Ameisen verglichen, die das Zerstörungswerk böser Buben geduldig wieder in Ordnung zu bringen.

Damit habe ich den Rechtschreibrat eigentlich gar nicht so direkt gemeint, wenn auch m.E. deutlich wird, daß allein die Tatsache, daß dieser zu Hilfe gerufen wird und erste reparierende Hand anzulegen sich anschickt, dem natürlichen, "höheren Orts" irgendwie trotz "zementierter Dummheit" doch geahnten Bedürfnis des zerstocherten Ameisenhaufens entspricht, der momentan nicht mehr funktioniert, aber wieder funktionieren will und muß. Denn bisher führten ja so gut wie alle Empfehlungen des Rates in Richtung der Wiederherstellung der früheren Verhältnisse.

Die Hauptleistung aber wird auch künftig das Ameisenvolk besorgen, der "Usus". Langfristig wird die jetzige "Variantenvielfalt", sei sie von den neuen Regeln vorgesehen oder durch ihre freie Interpretation in freiem Wildwuchs entstanden, sich reduzieren auf das, was man am häufigsten liest und schreibt, und wer viel schreibt, wird bald wieder so schreiben, wie es ihm sinnvoll erscheint. Und so kommt es mit der Zeit zu dem, was sich in Zukunft bewähren wird. Das wird sich kaum von dem unterscheiden, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Auf lange Sicht haben schlechte und falsche Schreibungen keine Überlebenschance, auch wenn es momentan so aussieht, als würden sie künftig unsere Schreibwirklichkeit bestimmen. Die Schul- und Wörterbücher werden dem Rechnung tragen müssen, so daß auch an den Schulen sich die genesende Rechtschreibung Schritt um Schritt, Update um Update, durchsetzen wird.

Die Bestätigung für diese Vermutung findet sich jetzt schon in der Praxis, so beim Beharren vieler Schreiber und namhafter Medien bei der "alten" Rechtschreibung, bei der immer deutlicher sich abzeichnenden schleichenden Wiederkehr früherer Schreibungen in vielen reformwilligen Medien aber auch bei der Schreibpraxis im Alltag, und nicht zuletzt wird der beharrliche Widerstand der kompetenten Reformgegner noch lange dafür sorgen, daß diese miserable reformierte Rechtschreibung niemals "unstrittig" sein wird.

Da wirkt vieles zusammen. Daß Reformgegner sich weiterhin vehement wehren, gehört an zentraler Stelle natürlich zum natürlichen Regenerierungsprozeß. Michael Klett sagte sinngemäß in Zürich: "Diese reformierte Rechtschreibung halten die Deutschen nicht aus."

So ist es - wie man seit ihrer versuchten Einführung erlebt.


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 14.06.2005 um 14.53 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#923

Der Satz "..... mit heimlichem Schielen auf eine Norm, die es zu erfüllen gilt", nötigt mir nun doch noch einen praktischen Kommentar ab, obwohl das Forum gerade wieder in theoretische Höhen entschwindet.

Man sollte nicht vergessen, daß Sprache für bestimmte Berufsgruppen - wie für mich als Übersetzer - eben auch ein Produkt ist, das verkauft werden will. Als solches wird es von den Abnehmern unter die Lupe genommen und nicht selten im Rahmen einer Korrektur mit unschönen sprachlichen Schnitzern verziert, die man früher mit Hinweis auf den Duden recht gut abwehren konnte.

Nicht nur, daß es im aktuellen Duden selbst von Fehlern nur so wimmelt (ich benutze den Begriff "Fehler" hier nun einfach mal ganz undefiniert, in der Hoffnung, daß man sich im Forum über die Bedeutung einig ist), es haben sich auch in den Köpfen inzwischen Schreibungen festgesetzt, die zu völlig unnötigen und letztlich auch sinnlosen Diskussionen in diesem Zusammenhang führen. Ich meine, daß es nun so weit gekommen ist, daß jemand, der sich um guten Stil bemüht, nunmehr von Leuten korrigiert wird, deren Sprachgefühl früher durch den Duden und den Rechtschreibunterricht in der Schule einigermaßen gefestigt wurde, nun aber völlig durcheinander ist. Ich würde selbst nicht gerne auf eine Norm "schielen", aber rein praktisch wäre es gut, wenn man solche Leute auf ein akzeptables und allgemein akzeptiertes Wörterbuch verweisen könnte. Ich fürchte, das wird auf lange Zeit nicht möglich sein. Denn auch wenn man ein Wörterbuch hätte, das den aktuellen Sprachgebrauch abbildete, dann müßte dieses ja auch die heute üblichen Fehlschreibungen enthalten, oder? Denn auf diese Fehlschreibungen werde ich hingewiesen, wenn ich versuche, Korrekturen seitens meiner Kunden rückgängig zu machen.

Ich würde es begrüßen, auch Kommentare zu diesem eher praktischen Aspekt zu erhalten - der meine sowieso recht mühsame Arbeit unnötigerweise erschwert. Ich beneide inzwischen die Kollegen, die ins Englische übersetzen und daher einfach z.B. auf das "Oxford Dictionary" verweisen können.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.06.2005 um 13.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#922

Der gesamte Ausdruck ist adverbial, aber muß jeder Teil einer bestimmmten Wortart zugewiesen werden? Mir ist es eigentlich egal, was Grammatiker mit dem "Abend/abend" machen, im Zweifelsfall wird ja sowieso klein geschrieben. (Gallmann folgert gerade umgekehrt.)
Adverbien entstehen oft aus Kasusformen von Substantiven, dem Genitiv, dem Akkusativ (wie hier), dem Instrumental und Lokativ, wie früher (z. B. in "heute" = hiu dagu, "heuer" = hiu jaru).


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 14.06.2005 um 12.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#921

Sind Fälle wie Nacht für Nacht eigentlich vergleichbar mit heute Abend?


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 14.06.2005 um 12.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#920

Der Fall Punkt 9 Uhr ähnelt anderen wie Mitte der Woche.
Zu unserer liberalen Haltung in orthographischen Zweifelsfällen: Herr Ickler schrieb: Die interessante Frage ist hier nicht, wie "man" es schreibt, sondern warum man nachschlägt. Damit hat er noch kein Urteil abgegeben. So liberal sind wir auch gar nicht, denn wir stoßen uns ja an ungeschickten Schreibungen, selbst wenn sie grammatisch korrekt sind.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.06.2005 um 11.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#919

Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung nach § 34 kann man kaum Fehler im strengen Sinn machen, und zwar gerade deshalb, weil die Zusammenschreibung von Verbzusatzkonstruktionen nichts mit Wortbildung zu tun hat. Deshalb entscheidet hier der Usus, nicht die Grammatik. Und deshalb habe ich alles, was mit "-einander" kombiniert wird, mit dem Zeichen der Fakultativität gekennzeichnet, also z. B. "durcheinanderbringen".
Anders sieht es mit § 36 aus. "Besitz ergreifend" ist nicht falsch, aber stilistisch markiert, weil das erweiterte Partizip I eben eine sozusagen "undeutsche" Konstruktion ist, Papierdeutsch. Aber "noch Besitz ergreifender" ist grammatisch falsch.
Die Großschreibung in "heute Abend" ist nicht grammatisch falsch, weil der Übergang zum Adverb sich nicht sofort in der Schreibweise widerspiegeln muß. (Ich habe mich selbst hier manchmal lax ausgedrückt, aber meist beziehe ich mich auf Gallmann, der allerdings nach seinen eigenen Voraussetzungen und auch denen der Neuregelung sagen müßte, daß die Tageszeit hier nicht substantivisch ausgedrückt ist, weil sie keines der Substantivkriterien erfüllt. Zuletzt hat G. nur noch die Homonymie herangezogen, etwa nach dem Mtto: wenn es sich nicht bestimmen läßt, dann ist es eben das gleichlautende Substantiv, weil gar nichts anderes in Betracht kommt. Ziemlich dürftig.)
Übrigens kann meiner Meinung nach der private Usus auch Gebildeter, also etwa in Briefen, nicht Maßstab des Rechtschreibunterrichts sein. In der Schule lernt man Aufsätze schreiben. Folglich kommt nur der Usus von Druckwerken in Frage. Privates konvergiert wahrscheinlich auf diese Norm hin, aber das ist letzten Endes nicht relevant.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 14.06.2005 um 10.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#918

Herr Ickler hat im richtigen Augenblick ein klärendes Wort gesprochen. Typisch für eine so lange sich hinziehende Auseinandersetzung ist ja, daß die Argumentationsweise der beiden Seiten sich unmerklich einander annähert, von den Prämissen ganz zu schweigen. In jeder Sprache sind die Wortschreibungen der historische Kern, der nicht zur Disposition steht und über den jede Diskussion überflüssig ist. Der Teil A der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung gehört daher in ein linguistisches Exposé, nicht dagegen in eine Rechtschreiblehre für jedermann. Das wirft die Frage auf, welchen Sinn ein amtliches Regelwerk überhaupt hat. Zwischen 1866 und 1901, als die regionalen Varianten zu einer einheitlichen deutschen Rechtschreibung zusammenzuführen waren, hatte ein solcher klärender Text seine Berechtigung. Jetzt ist er höchst überflüssig. Frau Morin hat ja so recht, wenn sie Sprachgefühl und Intuition an die Stelle der Regeln setzen möchte (ähnlich wie Herr Zehetmair in seinen jüngsten Interviews), aber das müßte in unbedrohter Freiheit geschehen und nicht mit heimlichem Schielen auf eine Norm, die es letztlich zu erfüllen gilt. So wäre auch die Rechtschreibung der anderen anzusehen. Wo sie wirklich vom Üblichen abweicht, sollte man sich fragen, was der Schreiber damit wohl ausdrücken wollte. Wenn eine solche liberale Haltung schon in der Schule erlebt wird, könnte die traditionelle deutsche Rechtschreibmanie irgendwann verschwinden. Wohl gemerkt, Verstöße im Bereich der Wortschreibung sind Fehler, bei allem anderen gilt der stilistische Vorbehalt. Das trifft sogar auf das öffentliche Schreiben zu. Selbst in den Fachsprachen sind nur die Termini normiert, der umgebende Text ist Sache des Schreibers.

Herr Lachenmann hat kürzlich die Aktivitäten des Rats für deutsche Rechtschreibung mit den Bemühungen fleißiger Ameisen verglichen, die das Zerstörungswerk böser Buben geduldig wieder in Ordnung zu bringen. Man darf aber nicht übersehen, daß auch die bisher bekanntgewordene Überarbeitung den Geist der Unfreiheit atmet. Bei der GZS kann zum Glück niemand echte Fehler machen. Ängstliche Gemüter werden aber weiterhin so vom Wörterbuch abhängig sein, wie das vor und nach 1996 war. Es wäre aber wichtig, daß die Revision das Selbstbewußtsein der Schreibenden stärkt. Im Grunde wollte der bessere Teil in der Seele der Reformer nichts anderes.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 14.06.2005 um 09.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#916

Professor Jochems hat beispielhaft typische Differenzen zwischen der früheren Duden-Norm bzw. "Duden-Logik" und der intuitiven Schreibweise einer kompetenten Schreiberin angeführt. Kein Wunder: Der Duden war sehr schlecht im Bereich der Feinheiten. Einige tausend Schwächen, Inkonsequenzen, Fehler, Abweichungen vom tatsächlichen Schreibgebrauch enthielt er im Wörterverzeichnis. Auch die Regeln waren teilweise willkürlich, übertrieben und andernorts zu schwammig. Kein besonders kompetentes Redaktionsteam war da am Werk. Es ist deshalb nicht der Wunsch der ernstzunehmenden Reformkritiker, die alte Duden-Norm als Maß aller Dinge herzustellen, sondern der Konsens der kompetenten Schreiber ist das Maß einer guten Rechtschreibnorm. Da eine Schreiberin wie Wibke Bruhns zu diesen guten Schreibern gehört, werden ihre Schreibweisen automatisch in die Norm Eingang finden, so daß sich nur in wenigen Ausnahmefällen noch eine Differenz zu dieser besseren Norm auftut. Und dafür gilt dann: künstlerische Freiheit. Oder: Druckfehler. Oder: ein Versehen - jeder macht mal einen Fehler. Oder: Sehen wir die Norm locker - warum nicht auch so? Jedenfalls erübrigt sich dann dieses Händeringen um die angeblichen Fehlerträchtigkeit vor der Reform. Inzwischen gibt es ja den Ickler.

Ein Beispiel für die unangebrachte Rigidität des Duden: Schreibt man eigentlich Punkt 9 Uhr oder punkt 9 Uhr? Punkt als solches betrachtet ist ein Substantiv, also groß. Aber ist nicht Punkt 9 Uhr genau dasselbe wie genau 9 Uhr, könnte man demgemäß nicht zumindest genausogut klein schreiben, punkt als Adverb? Ist das nicht die Schreibweise der Zukunft nach unserer Auffassung, daß sich die bedeutungsorientierte Schreibung (punkt = genau) immer mehr durchsetzt? Ist die Kleinschreibung nicht auch lesefreundlicher, indem sie den Leser über Konstruktion und Inhalt noch besser ins Bild setzt? Die Kleinschreibung fand sich jüngst im SPIEGEL (zu meiner Überraschung). Google weist einen Anteil von rund einem Viertel aus. Ein Wörterbuch, das solche Übergangsfälle realistisch erfaßt, täte gut daran, punkt 9 Uhr als Nebenvariante anzuerkennen. Dann entfällt wieder mal eine Fehlermöglichkeit - Reformen erübrigen sich. Und die Sprachgemeinschaft wird schon entscheiden, was sie besser findet. Ein Beispiel dafür, daß die Reform keine Abhilfe geschaffen hat, ein deskriptives Vorgehen aber sehr wohl Abhilfe schafft.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 14.06.2005 um 09.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#915

Ja, die "Verrechtlichung" der Rechtschreibung hat den ganzen Hokuspokus, den wir heute erleben, erst möglich gemacht. Die tiefsitzende Überzeugung, Orthographie liege ganz nahe bei Gesetz und Vorschrift, eint Reformer, Gefolgsleute und, vor allem, Kultusbürokraten. (Die Sprache des Regelwerks zeigt diese Prägung auch deutlich, wie ein Reformer selbst zugibt). Die Vorstellung, man könne die Rechtschreibung als mehr oder weniger gelingende Praxis einfach den sie Praktizierenden überlassen, gilt wohl gerade in Deutschland als völlig undenkbar. Wie ist es dazu gekommen?


Kommentar von Simon Bauer, verfaßt am 14.06.2005 um 08.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#914

Heute im ARD-MorgenMagazin entdeckt:
Der "Experte", Manfred Baumgartner, ist der festen Überzeugung, seine Schüler in der 10. Klasse schreiben besser nach neuer Ordnung.
Besonders der Stängel (=Stengel) hat es ihm angetan.

Bei einzelnen Fragen rund um die deutsche Sprache hilft Ihnen die Duden-Sprachberatung. Sie erhalten schnell und zuverlässig Auskünfte zu Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik, Wortbedeutung und -herkunft, formaler Textgestaltung und vielem mehr.
Eine nette Zusatzinformation:
Montag bis Freitag 8:00 bis 18:00 Uhr Telefon: 0190/870098 oder 09001/870098 (1,86 € pro Minute aus dem Festnetz)

Das sollte man vielleicht einmal ausprobieren.

Auf die erste Lösung dieser Sprachberatung für diesen noch kommalosen Satz wäre ich gespannt:
"Der Lehrer sagt der Schüler sei dumm".

Wie wird der Satz in Zukunft wohl lauten?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.06.2005 um 06.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#912

Vielleicht ist es typisch deutsch, oder jedenfalls eher deutsch als was anderes. Jedenfalls ertappt man sich selbst dabei, daß man in einem orthographischen "Zweifelsfall" in Versuchung ist, irgendwo nachzuschlagen, um herauszufinden, wie es "richtig ist". Unproblematisch ist das bei der Wortschreibung: Verlies, brillant, Diphthong. Aber nehmen wir die Kommasetzung: "Bei Regen oder wenn der Himmel bewölkt ist ..." Das ist ein Fall, für den der Duden und die Neuregelung irgendwelche Anweisungen bereithalten (bereit halten? weiß der Teufel!), und man schlägt nach, vergißt es wieder, schlägt wieder nach ... Die interessante Frage ist hier nicht, wie "man" es schreibt, sondern warum man nachschlägt. Bin ich nicht Manns genug, die offensichtliche Irrelevanz auch durch die Tat anzuerkennen und es schlicht so zu machen, wie es mir im Augenblick gefällt? Was gibt mir den Wahn ein, daß es hier eine Regel geben müsse? Dabei war die Zeichensetzung bekanntlich nicht einmal amtlich geregelt und das entsprechende Dudenkapitel zwar nützlich, aber nicht verbindlich, denn es gab keine Antwort auf Zweifelsfälle im Sinne der Kultusminister (1955), weil es mangels amtlicher Reghel von 1901 auch keinen Zweifelsfall geben konnte.
Aus den vagen (aber nicht unnützen) Dudenregeln entspann sich eine Kasuistik, die notwendigerweise zu immer dickeren Begleitbüchern führte, vor allem für die Interpunktion, denn die Wortschreibung hatte ja ihre Entsprechung schon im wachsenden Wörterverzeichnis. Das entspricht den Strafrechtskommentaren ...


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 13.06.2005 um 23.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#911

Auf die Gefahr hin, daß wir aneinander vorbeireden (das schreib ich nun einfach mal so und vielleicht stört das ja jemand): ich denke es wird mir keiner widersprechen, wenn ich meine, daß der schlimmste Fehler der Reform die Überregulierung ist, die nun hoffentlich bei der GZS zumindest beseitigt wird.

Man kann sich von diesem Starren auf die Regeln auch kaum befreien, obwohl ich mich bemühe, nicht darauf zu achten. Schwierig wird es vor allem, wenn man den Kunden zu erklären hat, weshalb etwas grammatisch falsch ist und man es daher nicht schreiben möchte.

Ich finde es sollte dem Schreibenden überlassen sein, in bestimmten Fällen so oder so zu schreiben. Wenn es ihm gelingt, damit den gewünschten Eindruck beim Leser zu erwecken, dann hat er seine Aufgabe gut gemacht. Bei mir weckt aber die Schreibweise "er hat Recht" nur den Eindruck, daß der Schriftsteller nicht den Mut hat, grammatisch korrekt zu schreiben oder, noch schlimmer, daß er nicht einmal die Wortarten beherrscht. Das geht übrigens bei den meisten "Mitläufern" der Reform einher mit einem auch ansonsten fürchterlichen Stil.

Daß man beim Lesen englischer Bücher nicht auf die Rechtschreibung zu achten braucht, beruht ganz einfach darauf, daß es keine derart gewaltsamen Eingriffe in die englische Sprache gegeben hat. Wenn man neuerdings "he has right" schreiben würde, anstatt "he is right", um bei dem Beispiel "er hat Recht" zu bleiben, würde mich das schon stören.

Was "heute Vormittag" betrifft, wäre das meiner Meinung nach auch falsch, da es sich hier bei "Vormittag" nicht um ein Hauptwort handeln kann - das meint auch mein Duden Nr. 9 aus dem Jahre 1985 (Seite 741 - "heute vormittag"). Aber da hätte ich vor der Reform nicht einmal nachschauen müssen ... was hinlänglich Beweis sein dürfte, wie zerstörerisch das Werk der Reformer ist.

Wollen wir hoffen, daß der Spuk bald vorbei ist.

Wibke Bruhns werde ich mir sicherlich bald vornehmen, aber die genannten Beispiele zur GZS zeigen eigentlich nur, daß eine strikte Regelung hier völlig verfehlt ist (der vorreformatorische Stand war ja, daß man hier einige Freiheit hatte - wobei ich immer danach gegangen bin, was ich ausdrücken wollte und wie sich das, was ich sagen wollte, beim langsamen Sprechen anhört.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.06.2005 um 23.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#910

Es mag ja sein, daß "heute Abend" (häufig bei Thomas Mann) einen Grammatikfehler enthält. Aber wie steht es dann mit "heute Vormittag"? So schrieben die Halberstädter Eltern und Großeltern von Wibke Bruhns, auf die ich noch einmal zurückkommen muß. Einer erfahrenen Journalistin und Autorin (Jahrgang 1938) wird man wohl zugestehen, daß sie die traditionelle deutsche Rechtschreibung beherrscht, und zwar intuitiv, ohne beständig nach dem letzten vorreformierten Duden greifen zu müssen. Aus Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie habe ich mir etliche Stellen notiert, die nicht Zitat sind, also einen Rückschluß auf Wibke Bruhns' Rechtschreibkompetenz zulassen. Beschränken wir uns auf die Getrennt- und Zusammenschreibung, die gerade im Rat für deutsche Rechtschreibung verhandelt wird. Also:

Halberstadt gehört dazu. Wann immer ich später dahin fuhr... (23) Schon aus dem Zusammenhang ist klar, daß dahin freies Adverbiale sein muß, es sich also nicht um die Univerbierung dahinfahren ("wegfahren", "sterben") handelt. Die Betonung ist hier in beiden Fällen gleich, aber die erfahrene Schreiberin hat diesen Fall richtig beurteilt und entsprechend geschrieben. Das kann man nicht von jedermann erwarten. Wie steht es aber mit diesem Satzstück: abgesehen davon, daß HG Herz und Verstand durcheinander bringt (150)? Alle drei Bedeutungen von durcheinanderbringen sind laut Duden Deutsches Universalwörterbuch 1989 zusammenzuschreiben. Wibke Bruhns sieht das anders, aber vielleicht steht sie damit nicht allein. A propos: die hirnrissige Hingabe, mit der die Schwester nicht alleinstand. (20) Dies schreibt der Duden getrennt, nicht natürlich alleinstehend und die Alleinstehende. Greift W. B. Herrn Eisenbergs "idiomatisierter Gesamtbedeutung" vor? Vielleicht. Was immer sie sich gedacht haben mag, dies ist in traditioneller deutscher Rechtschreibung falsch. Und dann noch dies: daß die in ihrer Souveränität verletzten Belgier freundlich die Straßen freimachen (52) Wer hier keinen Fehler sieht, denkt wie W. B. intuitiv richtig, täuscht sich aber in bezug auf die Dudenlogik. Da die Differenzschreibung einen Brief freimachen Vorrang hat, schreibt man kontraintuitiv die Straßen frei machen getrennt. Dies alles gehört bekanntlich seit 1996 zum Paragraphen 34. Nun aber zum Paragraphen 36: Für den häufigsten Fall der Dudenregelung, nämlich die Zusammenschreibung von solchen Verbindungen mit Partizipien, die als klassifizierende Adjektive fungieren, gibt es etliche traditionell und demnächst wieder revidiert-reformiert richtig geschriebene Beispiele bei Wibke Bruhns. Deshalb fällt und die Besitz ergreifende Zuwendung fremder Menschen (12) auf. Hier hat ihre Intuition versagt, und auch der Duden hätte nicht weitergeholfen, weil er solche Spontanbildungen nicht kennt. Das gilt auch für taillenlose Kleider kaschieren ihre kinder-geschädigte Figur (221). Die Lösung war ja intuitiv fast dudenrichtig, aber dann ist doch der Verstand dazwischengekommen - siehe Bindestrich. Und schließlich noch Ich-bezogen (10): Großschreibung von "ich" und der Bindestrich sind falsch - zwei Fehler in einem Wort. Irgendwie meine ich aber, Wibke Bruhns Schreibung sei die intelligentere und leserfreundlichere Lösung des zugrunde liegenden Rechtschreibproblems. Geben wir zu alledem Frau Morin das letzte Wort: "Sprache hat, das mag man bedauern, kann es aber nicht ändern, eben auch sehr viel mit Gefühl und Intuition zu tun. Letzere wird durch die Reformschreibung gnadenlos abgewürgt - da lasse ich keinerlei Entschuldigungen gelten." Vielleicht gibt es eine ganze Anzahl von Neuschreibern, die sich wie Wibke Bruhns die Freiheit nehmen, sich über starre Regelungen einfach hinwegzusetzen.

Das Sprachgefühl hilft dabei natürlich kräftig mit. Wenn es aber nur der Reflex einer starren Normierung ist, hilft es auch nicht weiter. Da ist ein bißchen zusätzliches Theoretisieren schon besser. Es versorgt den autonomen Schreiber nämlich mit der Munition, um seine eigenständige Entscheidung erfolgreich zu verteidigen. Andererseits sollte man in der Lage sein, beim Umgang mit der geschriebenen Sprache den Orthographiemonitor auch einmal abzuschalten. Ich lese gerade Lalka von Boleslaw Prus im polnischen Original, habe aber eine ausgezeichnete Übersetzung ins Englische daneben liegen, um nicht jedes ungeläufige Wort im Wörterbuch nachsehen zu müssen. Mir kommt nicht der Gedanke, bei der faszinierenden Lektüre im Polnischen oder im Englischen auf die Rechtschreibung zu achten, die im übrigen auch nichts Auffälliges bietet. Ist es nicht ein mißlicher Nebeneffekt unserer Auseinandersetzung mit der Neuregelung, daß wir jetzt beim Lesen auf die Rechtschreibung achten und dabei tatsächlich eine Beeinträchtigung unseres Lesevergnügens hinnehmen?



Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 13.06.2005 um 19.32 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#909

Es tut mir leid, aber ich kann die vergangenen neun Jahre des orthographischen Wahnsinns nicht als Gewinn betrachten. Natürlich ist die schriftliche Kommunikation (noch) nicht zusammengebrochen, aber sie ist auf "gutem" Wege dahin. Es ist nämlich schon soweit, daß jüngere Leute (und auch gestandene Journalisten offensichtlich) nicht mehr verstehen, welche Grammatikfehler sie produzieren, wenn sie z.B. "heute Abend" schreiben. Man könnte das ja als Kuriosität hinnehmen, aber ein solch kleiner Eingriff bringt eben - ähnlich der Beseitigung einer tragenden Wand bei einem Gebäude - das gesamte Sprachvermögen (leider auch in den Fremdsprachen) ins Wanken. Wer aufgrund solcher und ähnlicher Neuschreibungen ("im Übrigen")nicht mehr in der Lage ist, ein Hauptwort mit einiger Sicherheit zu definieren, wird das auch im Englischen oder Französischen nicht können. Warum die Reformer dazu nicht in der Lage sind oder sein wollen, ist dabei irrelevant.

Tatsache ist, daß das Sprachgefühl bei vielen Leuten bereits erheblich gestört ist. Auch bei meiner Schreibkraft, die früher nur wenig Fehler machte, tauchen solche Dinge auf, obwohl ich herkömmliche Schreibung verlange.

Weiterhin sollte man bedenken, daß es doch sicherlich eine große Anzahl Deutscher gibt, denen das Lesen Spaß macht(e). Davon kann nun keine Rede mehr sein. Wenn man den Fehler macht, im Internet Bücher zu bestellen, kann es geschehen, daß einem ein Roman in "neuer" Rechtschreibung ins Haus flattert. So geschehen neulich mit einem Buch des Herrn Schätzing, das sich großartig verkauft hat, obwohl auf jeder zweiten Seite "er hat Recht" bzw. "es tut mir Leid" zu sehen ist und ich gezwungen war, auf jeder Seite mehrere Korrekturzeichen anzubringen, was mein Lesevergnügen erheblich beeinträchtigt hat. Ich frage mich, was Herrn Schätzing dazu bewogen hat, dies beim Verlag durchgehen zu lassen. Feigheit eines noch relativ neuen Autors? Mangelnde Sprachkenntnis? (Kann doch wohl kaum möglich sein.)

Natürlich gibt es weiterhin Bücher in guter deutscher Rechtschreibung, man muß da aber immer erst nachfragen. Da ich große Mengen an Büchern "verzehre" habe ich dazu gar nicht die Zeit. Bin daher jetzt fast völlig zu englischen Büchern übergegangen. Muß man sich eigentlich gefallen lassen, daß einem das Lesen von Büchern in der Muttersprache vergällt wird?

Nun - das waren einige praktische Kommentare zu den hier oft zu sehenden rein theoretischen Erwägungen. Sprache hat, das mag man bedauern, kann es aber nicht ändern, eben auch sehr viel mit Gefühl und Intuition zu tun. Letzere wird durch die Reformschreibung gnadenlos abgewürgt - da lasse ich keinerlei Entschuldigungen gelten.


Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 13.06.2005 um 16.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#908

Professor Jochems hat natürlich recht, daß die durch die RSR verursachte Diskussion die Sprachwissenschaft zu neuen Entdeckungen geführt hat. Gerade Professor Ickler hat in den letzten Jahren einige dieser Entdeckungen geschildert, meist mit der (kaum mehr erstaunten) Konnotation, wie sinnvoll die von der lebenden Sprache gefundenen Lösungen doch waren.
Die Zahl der Menschen, die orthographisch perfekt schrieben, überstieg bei weitem die derer, die sich jemals intensiver mit Orthographie oder deren Regeln beschäftigt hatte. Das Ergebnis der "richtigen Schreibung" bedufte der formulierten Regeln nur nachrangig. Das ist in der Tat eine wichtige Erkenntnis: die Stimmigkeit leitet sich nicht in erster Linie von Regeln her.
Hier gab es die "überkandidelten Duden-Regeln", dort als Reflex darauf die weitgehend unbrauchbaren und theorielastigen Regeln der RSR. Manche dieser alten Duden-Regeln hätte man einem geübten Schreiber immerhin abringen können, wenn man ihn gezwungen hätte, zu derlei Einzelfragen Regeln zu erfinden - sie waren ziemlich oft doch halbwegs nachvollziehbar. Die Regeln der RSR sind völlig anderer Art. Es sind - im besten Fall wohlmeinende - Setzungen. Vielleicht ist auch gut gemeint der bessere Ausdruck. (Das zugehörige: "aber nicht gekonnt" ist fast schon sprichwörtlich.)
Hochinteressant ist die Ablehnung der RSR durch viele Poeten und Schriftsteller. Sie, die sich der Sprache in ganz anderer Weise nähern als wir Durchschnittsmenschen, haben die RSR teilweise als Verletzung empfunden.
Das hat mich schon an Hélène Grimaud erinnert, die schildert, wie sie die Musik der von ihr bevorzugten Komponisten "sieht" und sich durch das Durchwandern dieser Farblandschaften auf Konzerte besser vorzubereiten vermag als durch das Üben am Instrument. Orthographie ist gewiß eine gehörige Ebene unterhalb der Grimaud'schen Synästhesien anzusiedeln; als gänzlich anders mag ich das nicht sehen: für mich "klingt" ein guter Text jenseits vordergründig akustischer Eindrücke.


Kommentar von mario32, verfaßt am 13.06.2005 um 16.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#907

Zu dem Thema fällt mir (mitlerweile nur noch) ein Liedtext ein:

[i]Der unendliche Tango der deutschen Rechtschreibung

Hab‘ ein altes Heft gefunden
Mit krak‘liger Kinderschrift.
Abgewetzt, vergilbt, geschunden –
Und ein böser, roter Stift
Metzelt in den Höhenflügen
Meiner armen Niederschrift
Mit sadistischem Vergnügen
Und verspritzt sein Schlangengift.
Und ich spüre, jeder rote
Strich am Rand trifft wie ein Pfeil.
Die Zensur ist keine Note,
Die Zensur ist wie ein Beil.
Ich spür‘s, als ob‘s heute wäre
Und ich blick‘ zurück im Zorn,
Sträfling auf einer Galeere
Und der Einpeitscher steht vorn:

(Refrain)
„Nach L N R, das merke ja,
Stehn nie T Z und nie C K!
Bildest die Mehrzahl du vom Wort,
Dann hörst die Endung du sofort!
Nimm die Regel mit ins Bett:
Nach Doppellaut kommt nie T Z!
Und merke: Trenne nie S T,
Denn es tut den beiden weh!“

Ich war kein schlechter Erzähler,
Aber es war wie verhext:
Wo ich schrieb, da waren Fehler
Und wo nicht, hab‘ ich gekleckst.
Nachhilfe und guter Wille
Blieben fruchtlos, ist doch klar,
Weil ich meist wegen Sybille
Gar nicht bei der Sache war.

Wenn ich Schularbeiten machte,
Dacht‘ ich immer nur an sie –
Immer, wenn ich an sie dachte,
Litt meine Orthographie...
Und so hab‘ ich mit ihr eben
Lieber probiert, als studiert.
Mich interessiert das Leben
Und nicht, wie man‘s buchstabiert!

Refrain

Kreide kreischt über die Tafel,
Mir sträubt sich das Nackenhaar.
„Setzen, Schluß mit dem Geschwafel!“
Es ist wieder wie es war.
Und da sitze ich und leide
Geduckt an dem kleinen Tisch,
Rieche Bohnerwachs und Kreide,
Welch ein teuflisches Gemisch!
Und dann kommt meine Abreibung!
Und ich werde Anarchist,
Der begreift, daß die Rechtschreibung
Die Wissenschaft der Esel ist.
Ein Freigeist, ein großer Denker,
Ein Erfinder, ein Poet,
Ein zukünft‘ger Weltenlenker
Beugt sich nicht dem Alphabet!

Refrain

Ich schreib‘ heute noch wie Django!
Schreib‘ ohne Bevormundung.
Trotze dem endlosen Tango
Der deutschen Rechtschreibung.
Ich hab‘ nur Glück, daß ich heut singe,
Und somit ungelesen bleib‘:
Ihr wißt von mir 1.000 Dinge –
Aber nicht, wie ich sie schreib‘!

Refrain[/i]

Quelle:
http://www.reinhard-mey.de/index.php?render=text_main&id=195


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 13.06.2005 um 15.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#906

„Miß-Stand der Politiker“

Es ist wahrlich kein Sachargument, wenn im Zuge der Rechtschreibreform immer wieder das Fehlen demokratischer Entscheidungsprozesse angemahnt wird, oder wenn gar dem Staat das Recht verweigert wird, sich in die Normierung der gewachsenen Orthographie einzumischen.

Es ist jedoch legitim, dieses Argument immer wieder vorzutragen, insbesondere deshalb, weil der Staat mit dem sog. Rechtschreiberlaß in einen weiteren Grenzbereich vorgedrungen ist, in dem er die Reglementierung des Bürgers vorantreibt, während letzterer sich nichts sehnlicher wünscht als „marktwirtschaftliche Freiheit“ und „Entbürokratisierung“.

Ist es falsch, sich diesem Bürgerwunsch anzuschließen? Sollte man tatenlos zusehen, wie der Staat sein Machtmonopol ausweitet und (als solche) definierte Reformblockaden ignorierend beseitigt?
Und: Wie steht es überhaupt mit der Handlungsfreiheit der Politik?
Verfügen denn die Politiker über genügend Sachkenntnis und Unabhängigkeit, so daß sie über zukünftige Normen auch verantwortungsvoll und sachlich kompetent entscheiden könnten?

Zahlreiche Indizien belegen das Gegenteil, künden von unbedachten politischen Entscheidungen, von Vorfestlegung und Selbstfesselung.
Wie kann man angesichts dieses „Miß-Standes der Politiker“ von den Kritikern das ausschließliche Einbringen von Sachargumenten einfordern?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.06.2005 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=275#905

Der 3. Juni 2005 hat ein lebthaftes Presseecho gefunden, hauptsächlich freilich durch den fleißigen Nachdruck der Agenturmeldungen. Echte Stellungnahmen in namentlich gezeichneten Artikeln waren eher seltener als bei früheren Gelegenheiten. Nie jedoch wurde Herr Zehetmair so häufig zitiert und in ausführlichen Interviews vorgeführt wie diesmal. Was er von sich gab, hat die Reformbefürworter eher beruhigt und bei den Kritikern einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

Unbeteiligte, aber interessierte Zeitgenossen müssen den Eindruck gewonnen haben, daß der manipulative Umgang mit der Rechtschreibung weitergeht, ohne daß radikale Umschwünge zu erwarten wären. Wahrscheinlich haben sie so unrecht nicht. Niemand übersieht heute, daß die gedruckt in Erscheinung tretende Orthographie jetzt uneinheitlicher ist als früher, was aber nicht dazu geführt hat, daß die schriftliche Kommunikation im umfassenden Sinne irgendwo zusammengebrochen oder auch nur beeinträchtigt wäre. Die eigentlichen Torheiten der Reformer kommen in veröffentlichten Texten ohnehin sehr selten vor, und den vielen neuen "ss"-Wörtern kann mancher sogar etwas abgewinnen. Es wird kein Aufschrei durch die Republik gehen, wenn am 1. August 2005 noch einmal bestätigt wird, was ohnehin seit mehreren Jahren existiert, und mit einer Prozeßflut sollte auch niemand rechnen. Natürlich wird sich erweisen, daß sich am Niveau der orthographischen Schülerleistungen durch die Reform nichts geändert hat. Gerechterweise sollte man anerkennen, daß das auch dann so wäre, wenn aufgeklärte Reformer vernünftige und unanstößige Neuschreibungen eingeführt hätten. Die Konkurrenz mit den traditionellen Schreibungen hätte auch in diesem Falle die Schreiblerner und die umstellungswilligen Schreiber verwirrt. Eine Rechtschreibreform ist eben etwas anderes als die Novellierung der Straßenverkehrsordnung.

Viele Kritiker der Rechtschreibreform haben erst in der intensiven Auseinandersetzung mit dem neuen Regelwerk bemerkt, wie lückenhaft ihre Kenntnis der traditionellen deutschen Orthographie war. Vielleicht ging das auch einem Mitglied der Arbeitsgruppe Rechtschreibung der KMK so, von dem der Satz stammt, nun könne jeder Schüler aufgrund einfacher Regeln selber entscheiden, ob die von ihm gewählte Schreibung richtig oder falsch sei. Das wäre in der Tat ein erstrebenswerter Zustand, aber so funktioniert keine Rechtschreibung mit einer langen Schreibtradition. In den Wortschreibungen spiegelt sich die Sprachgeschichte, doch das ist für das praktische Schreiben ohne Belang. Einige Schreiber gibt es jedoch, und vielleicht sind es gar nicht so wenige, denen Schreibformen wie "Weihnachten" oder "Fronleichnam" mehr als ästhetisch neutrale Bedeutungsträger sind. Für die Frage jedoch, ob "um so" nach dem jeweils geltenden Usus getrennt oder zusammenzuschreiben ist, hat sich wohl nie jemand begeistern können, und das eifrige Nachschlagen solcher Belanglosigkeiten hat zu allen Zeiten selbst die Freude an der Schönheit richtig geschriebener Texte getrübt.

Wer in den letzten neun Jahren unbeirrt die Forderung nach der Rücknahme der Rechtschreibreform wiederholt hat, ohne sich gleichzeitig von sachkundigen und zugleich elegant geschriebenen Beiträgen wie denen Herrn Icklers belehren zu lassen, welche sprachwissenschaftlichen Überlegungen diese Forderung stützen, hat eine große Gelegenheit verpaßt. An einem allgemein zugänglichen Beispiel war hier zu lernen, wie eine lebendige Sprache funktioniert, gleichzeitig aber auch, welche Schwierigkeiten die theoretische Erfassung und Erklärung dieses komplexen Phänomens macht. Wie immer der Streit ausgeht, am Ende stehen vertiefte Einsichten in "die" und in "unsere" Rechtschreibung, die in "orthographischen Friedenszeiten" nicht zu erlangen gewesen wären. Vieles davon ist allerdings so abgehoben, daß es weder für die Schule noch für den allgemeinen gebildeten Umgang mit dem richtigen Schreiben eine Rolle spielen kann. Auch Sprachwissenschaftlern gerät leicht aus dem Blick, was hochgestochene Theorien und Terminologien wirklich leisten. Doch selbst wenn "resultative Prädikative" und "idiomatisierte Gesamtbedeutungen" demnächst in der Praxis versagen, wird das keinen Paradigmawechsel bewirken. Wer wird schon zu der Einsicht gelangen, daß es sich beim Versuch der Regelung einer lebendigen Rechtschreibung um eine Aporie handelt? Die Rechtschreibreform hat sich als ein interessanterer Erkenntnisgegenstand erwiesen, als sich ihre Befürworter und ihre Kritiker das klarmachen.




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