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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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06.05.2011
 

15 Jahre Rechtschreibereform
Es tut mir Leid – Es tut mir leid

In der Kolumne „Übrigens“ des Walliser Boten schreibt Dr. Alois Grichting zum 15jährigen Jubiläum der Rechtschreibreform (1996–2011):


Übrigens … «feiern» die Verursacher der überstürzten, auf Impuls der Deutschen Kultusministerkonferenz in die Welt gesetzten Rechtschreibereform des Jahres 1996, das Jubiläum «15 Jahre Rechtschreibreform». Dass es hier eigentlich nichts zu feiern gibt, drückte die Präsidentin dieser famosen Konferenz, Frau Ministerin Johann Wanka, in der NZZ wie folgt aus: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibereform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden».
Da haben wir’s! Die Reform, wie sie nichtkompetente Politiker anstiessen, war ein Debakel – ein teures und unsinniges übrigens, das man uns allen, der Schule und den Printmedien hätte ersparen müssen. Und die Spitze: Die unsinnigen Weisungen der Reformer sind auch von unseren eidgenössischen Stellen – z.B. von der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz EDK – blindlings als verbindlich übernommen worden.
Fazit: Nach 15 Jahren erweist sich diese Verstaatlichung der Rechtschreibung als eine unnötige und absurde Katastrophe. Bitte, liebe Leserinnen und Leser, entschuldigen Sie diese harte Sprache! Eine nähere Untersuchung lässt aber kein besseres Urteil zu. Hier dazu zwei Betrachtungen:

Aspekt 1: «Es tut mir Leid / Es tut mir leid»? Die «Geschichte» der Schreibung dieses Ausdruckes formuliert einer meiner Freunde, Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann aus Gossau, Mitglied der Arbeitsgruppe der «Schweizer Orthographischen Konferenz» (SOK), im Heft 1 + 2 / 2011 des «Sprachkreises Deutsch» sehr bezeichnend. Diese Geschichte zeigt beispielhaft auf, auf welch dilettantische und willkürliche Weise der die Reform durchführende «Rat für Rechtschreibung» – hier «Rat» genannt – arbeitete:

1996: Nachdem man herkömmlich «Es tut mir leid» schrieb, wurde «Es tut mir Leid» (grosses L) obligatorisch erklärt. Obwohl diese substantivische Schreibweise arge Kritik erfuhr, hielt der Rat zunächst daran fest.

2004: Die Kultusminister setzen sich nun über den Rat hinweg und schreiben: «Für den Fall ‚Leid tun‘ wird neu die zusätzliche Variante ‚leidtun‘ eingeführt». Eine Entscheidung zwischen adjektivischem und substantivischem Gebrauch lasse sich nicht treffen. Heuchlerisch wird hier verschwiegen, dass «leidtun» (Es tut mir leid), die herkömmliche Schreibung und keine Erfindung der Kultusminister war. Mit der Zulassung von «Es tut mir leid» als «Variante», verdeckten die Politiker nur die ihnen vom «Volk» aufgezwungene und peinliche Rückkehr zur herkömmlichen Schreibweise. Die «Varianten»-Variante erhöhte das Chaos «Leid/leid» in den Schulen und Printmedien erheblich. Dieses durch die heuchlerische «Varianterei» entstandene Chaos ist auch noch 2011 gewaltig. Es verleitet die Schüler zur Meinung, Rechtschreibung sei gar nicht wichtig, ja beliebig.

2006: Überraschung: Der Rat sagt, es gelte von jetzt an nur «Es tut mir leid» – sodass man, wie wenig bekannt, endlich bei der herkömmlichen Schreibung ankam. Amen!

Aspekt 2: Angesichts dieser, auch vieler anderer Beispiele liederlich-laienhafter, willkürlicher und unverantwortlicher Arbeitsweise des Rates und des entstandenen Rechtschreibechaos legte die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK, www.sok.ch) nun einen Gratis-«Wegweiser zu einer einheitlichen und sprachrichtigen deutschen Rechtschreibung» vor (Sekretariat SOK, Frau Widmer, Länggassstrasse 71, 3012 Bern). Die SOK hält darin den Grundsatz «Bei Varianten die herkömmliche» hoch und äussert sich zu den gröbsten Fehlern, auch zu Schule, Verwaltung und Verlagswesen. Mit ihr tut dies auch die Konferenz der Chefredaktoren, der Verband der Schweizer Presse und die Schweizerische Depeschenagentur. Dies ermutigte auch meine Wenigkeit, SOK-Mitglied zu werden und die schlimme, absurde, politisch diktierte Verstaatlichung der Sprache zu bekämpfen. Helfen Sie mit?

(Quelle: Walliser Bote vom 6. Mai 2011, Seite 5)



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Kommentare zu »15 Jahre Rechtschreibereform«
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Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 17.05.2011 um 11.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8616

Als ich die Überschrift sah, war mein erster Gedanke: leistet Prof. Augst Abbitte? Es tut mir so furchtbares Leid!


Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 20.05.2011 um 21.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8619

Ganz nebenbei: Länggaßstraße mit fünf s tut mir als Nicht-Schweizer in der Seele weh und zeigt, wie nützlich doch das gute alte ß ist.
Nochmal nebenbei: "Es tut mir Weh" und "Es tut mir Gut" sind uns ja zum Glück erspart geblieben. Man weiß nicht, ob man den Reformern dafür dankbar sein oder sie wegen ihrer Inkonsequenz auslachen soll.


Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.05.2011 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8620

Es ist zwar hier nichts Neues, aber ich mag es trotzdem auch an dieser Stelle nicht so stehenlassen:

Die herkömmliche Schreibung war nicht leidtun, wehtun, sondern leid tun, weh tun.

Die Reformer wollten selbst bei der Rücknahme des Unsinns noch trotzig darauf beharren, daß eben irgendeine Änderung schon notwendig gewesen sei. Aber es handelt sich weder um eine resultative Verbindung noch ergibt sich eine neue Bedeutung, die Zusammenschreibung ist also m. E. völlig unbegründet. Bis auf den Trotzkopf.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.06.2011 um 08.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8629

Die früher ganz unproblematische Schreibung jemandem leid tun (neben der unrealistischen Duden-Anweisung jemandem guttun) wurde über den Umweg Leid tun (neben reformiert gut tun) geändert in leidtun (neben zurückreformiert guttun).

Die richtige Lösung wäre die Orientierung an der Schreibwirklichkeit gewesen: Weit überwiegend wurde getrennt geschrieben (leid tun, gut tun); manchmal zusammen, vor allem im Partizip (leidgetan, gutgetan). Also die Freigabe der Schreibung (leid_tun, gut_tun), gegebenenfalls mit Hinweis auf die dominierende Zusammenschreibung.

Im Ickler sehe ich den Freigabe-Bogen übrigens nur bei gut_tun. Ist es Absicht, daß leid_tun nicht in derselben Weise dargestellt wird?


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.06.2011 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8630

Hatten wir eigentlich schon über den Fall ein Weiterer gesprochen?
Nach aktuellem Stand ist korrekt:
der eine/Eine (Dudenempfehlung: der eine)
der andere/Andere (Dudenempfehlung: der andere)
der Nächste
der Erste, Zweite, Dritte

Daraus ergeben sich laut Dudenempfehlung folgende unschönen Kombinationen:
der eine, der andere, der Dritte
der eine, der andere, der Nächste
der Erste, der andere, der Dritte
der Erste, der andere, der Nächste

Nach meinem Eindruck ist ein weiterer/Weiterer nicht ausdrücklich geregelt und taucht auch nicht im Duden auf. Nach der Logik der Reform kommt jedoch nur ein Weiterer in Frage, vergleiche obligatorisch der Nächste, ein Dritter, das Weitere.

Somit können wir weiter kombinieren:
der eine, der andere, ein Weiterer
der eine, der Nächste, ein Weiterer
der eine, ein Weiterer, ein Dritter
der Erste, der andere, ein Weiterer

Und das alles unter der Parole, es gehe darum, die Einheitlichkeit der Schreibweisen sicherzustellen. Hallo?

Die Google-Recherche zeigt, daß sich neben der bewährten Schreibung der nächste das reformierte der Nächste zu einem gewissen Anteil durchgesetzt hat, daß aber nach wie vor nahezu ausschließlich die Kleinschreibung ein weiterer auftaucht, obwohl beides unter dem Diktat der Reform gleichermaßen groß geschrieben werden müßte. Das zeigt, daß alle diese Begriffe eigentlich pronominal verstanden werden und man deshalb ganz natürlich zur Kleinschreibung tendiert.

Warum hat die Großschreibung ein Weiterer nahezu überhaupt keinen Erfolg, anders als der Nächste? Ich sehe zwei Gründe. Zum einen ist der Nächste häufiger als ein Weiterer. Zum anderen wurde der Nächste in der Berichterstattung und in der Didaktik jahrelang thematisiert, während man auf ein Weiterer bisher nicht aufmerksam geworden ist.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.06.2011 um 09.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8631

Ja, lieber Herr Wrase, das war Absicht, denn meine Quellen gaben nicht hinreichend viel für eine Zusammenschreibung her.

Zum Weiteren vgl. noch die adverbialen Wendungen des Öfteren, des Näheren, des Weiteren, die wirklich sehr rückständig wirken und sich auch nur halb durchgesetzt haben, obwohl sie leicht zu programmieren sind.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.06.2011 um 10.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8632

Man kann zwar laut Reform 2006 schreiben
die einen, die anderen
oder auch
die Einen, die Anderen,
aber nur
zum einen, zum anderen.

Und das, obwohl wir bei zum einen, zum anderen sogar das Doppelpack Präposition zu + Artikel dem haben, das im Sinne der Reform die Großschreibung noch mehr ermöglichen müßte als bei die einen, die anderen. Entsprechend verwirrt, schreibt der folgsame Deutsche heutzutage gerne groß: zum Einen, zum Anderen.

Solche Befunde sieht man an allen Ecken und Enden, aber der Rechtschreibrat möchte seinen Tiefschlaf fortsetzen. Vielleicht ist das besser so. Sonst bekommen wir in der nächsten Reformstufe die Variante zum Einen, zum Anderen mit dem Kommentar, man habe sie bei der Beobachtung des Schreibgebrauchs ausfindig gemacht.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 02.06.2011 um 13.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8633

Zum Nächsten und zum Weiteren: Vielleicht hängt die unterschiedliche Akzeptanz der beiden auch damit zusammen, daß der Nächste den Mangel an Beharrlichkeit seiner Eigenschaft, nahe zu sein, durch räumliche Präsenz ausgleichen kann, während dem Weiteren die Weite nicht nur ebensowenig konsubstantiell ist wie dem Nächsten die Nähe, sondern er eben auch weiter weg steht. Der Nächste dagegen fällt unmittelbar in den zyklopischen Blick, der der Pronominalgroßschreibung zugrunde liegt.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.06.2011 um 13.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8634

Lieber Herr Bärlein, sehr scharfsinnig! Ich bin mir aber nicht ganz sicher. Mit einem Körnchen Wahrheit kann man argumentieren, daß dem "Nächsten" etwas "Nahes" eigen zu sein scheint, weil man sich jemanden in der Nähe vorstellt, von dem man redet oder auf den man sich einen Augenblick lang konzentriert. Mit derselben Berechtigung könnte man aber auch den "Weiteren" rechtfertigen. Man muß nur die Perspektive ernst nehmen, daß zuvor von anderen Personen die Rede war (zum Beispiel vom einen und vom anderen) und daß diese beiden mit ihrer Rangfolge im Blick behalten werden sollen: Dann steht der "Weitere" tatsächlich "weiter" weg als die im Vordergrund verharrenden, zuerst genannten Hauptpersonen.

Mit einem feinen Sinn für Aspekte könnte man vielleicht auch vermuten, daß der bestimmte Artikel der mit seinem demonstrativen Charakter noch fester mit einem Substantiv, mit einem sichtbaren Gegenstand assoziiert wird als der etwas unauffälligere unbestimmte Artikel ein; wir haben ja den Vergleich der Nächste versus ein Weiterer angestellt. Das ist aber ebenfalls spekulativ.

In jedem Fall läuft das Hineininterpretieren einer wörtlichen Bedeutung dem Sprachgefühl zuwider, was man am überwältigenden Übergewicht der Kleinschreibung ein weiterer ablesen kann.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 02.06.2011 um 17.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8635

Lieber Herr Wrase, das ist ja die Frage: warum das Sprachgefühl sich gegen einen Weiteren stärker sträubt als gegen den Nächsten, obwohl die Grammatik die Wörter in dieselbe Reihe stellt. Dahinter steckt die jeweilige Metaphysik der Schreiber. Polyphem würde auch niemand groß schreiben, Gallmann ist nicht ganz so weit gegangen. Andere wiederum können den beiden bei dem Nächsten noch folgen, bei einem Weiteren jedoch nicht mehr, usw.

Wichtig finde ich Ihren Hinweis auf die verschiedenen Artikel. Ein Weiterer ist beliebig durch weitere austauschbar, auch können sie sich ihm beliebig zugesellen. Weiterer zu sein ist offensichtlich ziemlich zufällig und keine Bestimmung, die zur seinsmäßigen Verdichtung eines Weiteren führt. Demgegenüber scheint der Nächste bestimmt zu sein. Die Äußerlichkeit dieser Bestimmung wird erst sichtbar, sobald ein anderer in seine Position einrückt. Aber dann steht eben schon wieder der Nächste da.

Die Auskunft "Ich bin der Nächste" überzeugt nicht nur durch die Nähe dessen, der sie erteilt, sondern auch durch ihre scheinbare Stimmigkeit. "Ich bin ein Weiterer" dagegen weckt auch bei einem intelligenteren Zyklopen Mißtrauen. Er merkt, daß ich nicht der Einzige sein kann, und hakt nach, wo die Anderen sich herumtreiben. Vor allem werde ich mir einen neuen Namen einfallen lassen müssen.


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 08.07.2011 um 19.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=673#8650

"Guten Tag,
Es tut mir sehr Leid, dass Sie Ihre Bestellung des Artikel "xxx" noch nicht erhalten haben." (6. 7. 2011)
Amazon.de verwendet derzeit noch die Rechtschreibung anno 1996.
Airlines und Bahnverwaltungen übrigen auch ...



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