Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
Zur vorherigen / nächsten Nachricht
Zu den Kommentaren zu dieser Nachricht | einen Kommentar dazu schreiben
28.06.2007
Stefan Stirnemann
Die Rechtschreibreform und die Wissenschaft
Wer schweigt, scheint zuzustimmen
Auf diesen Artikel bezieht sich die SOK in ihrem Brief an den Rechtschreibrat, wir geben ihn hier mit freundlicher Genehmigung der „Kritischen Ausgabe“ vollständig wieder.
Ich bitte die Mitglieder des Rates für deutsche Rechtschreibung, unverzüglich auf das Regelwerk [1] zurückzukommen, das sie unter Leitung ihres Vorsitzenden, Alt-Staatsminister Dr. h. c. Hans Zehetmair, ausgearbeitet haben. Ich bitte die Vertreterinnen und Vertreter der Germanistik, zu diesem Werk Stellung zu beziehen. Es hat den Anspruch, unsere Sprache in ihrer schriftlichen Form zu beschreiben; es erfüllt diesen Anspruch nicht. Es ist nicht die Grundlage einer sprachrichtigen und einheitlichen Rechtschreibung. Über die einzelnen Abschnitte haben diejenigen der rund vierzig Räte abgestimmt, die gerade anwesend waren; auf Antrag zweier Kollegen, des Duden-Autors Peter Gallmann und des Leiters der Dudenredaktion Matthias Wermke, sogar mit Zweidrittelmehrheit [2]. Abstimmungen sind Werkzeug der Politik und nicht der Wissenschaft; wer dieses Verfahren mitträgt und sich mit seinem Ergebnis zufriedengibt, räumt der Politik und ihren angeblichen Zwängen Vorrang vor der Wissenschaft ein; er macht damit die Wissenschaft lächerlich, aber auch die Politik [3].
Die Öffentlichkeit als Narr
Der Vorsitzende Zehetmair unterrichtete am 28. Oktober 2005, nach der sechsten Sitzung des Rates, die Öffentlichkeit über Verbesserungen bei den reformierten Trennregeln. Sie seien »nach intensiver Behandlung« »beschlußmäßig verabschiedet« worden: »Irreführende Trennungen sind zu vermeiden.« Als Beispiele nannte er ›Sprecher|ziehung‹ statt ›Sprech|erziehung‹ und – »vielleicht am deftigsten« – ›Urin|stinkt‹ statt ›Ur|instinkt‹ [4].
Zehetmair wußte nicht, daß der Hinweis auf ›Sprech|erziehung‹ bereits in der ersten Fassung des reformierten Regelwerks steht [5] und daß man den faden Witz mit ›Urin|stinkt‹ den Schülern auch schon im ersten Jahr der Reform aufgetischt hatte [6]. Der Rat für Rechtschreibung behandelte also Dinge intensiv, bei denen es gar nichts zu behandeln gab, und Zehetmair wertete diese Scheintätigkeit als Fortschritt.
Schein und Irrtum hat der Rat dicht gesät – mit dem, was er am Reformwerk überarbeitete und mit dem, was er billigte. Ich gebe einen kleinen Überblick.
Was ist Wissenschaft?
Der Rat hält handhaben für eine Zusammensetzung aus Hand und haben [7]. Daß das Verb in Wahrheit vom Substantiv die Handhabe abgeleitet ist, steht schon in Schulgrammatiken des 19. Jahrhunderts [8]. Im Anhörungsverfahren, das der Rat zu einigen Teilen seines Werks durchführte, wies ich auf das Versehen hin. Es wurde nicht verbessert, und als ich nach dem Grund fragte, antwortete Kerstin Güthert, die Geschäftsführerin des Rates:
»Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat sich nach eingehender Diskussion dafür ausgesprochen, das betreffende Beispiel im Beispielblock zu § 33(1) zu belassen. Der Grund dafür war allein pragmatischer Natur: da das Regelwerk 2004 die Grundlage der Arbeit des Rats für deutsche Rechtschreibung darstellte, hat der Rat für deutsche Rechtschreibung nur für die Stellen des amtlichen Regelwerks Änderungen vorgesehen, an denen eine andere Schreibung beabsichtigt war. Da dies auf ›handhaben‹ nicht zutrifft, wurde keine Änderung vorgeschlagen. Die Art der Regeldarbietung selbst, die zwischen ›populärwissenschaftlich‹ und ›wissenschaftlich‹ anzusiedeln ist, hat auch im Rat zu Diskussionen geführt. Diese wurde aber als untergeordnet eingestuft.«
Die falsche Einordnung von ›handhaben‹ ist nur ein Beispiel dafür, daß der Rat ein schwieriges Kapitel deutscher Wortbildung nicht erfaßt hat; das hat natürlich Einfluß auf Schreibweisen. Vorgehen und Rechtfertigung, beides unvereinbar mit wahrer Wissenschaft, erlaubt sich nur jemand, der seit langem gewohnt ist, von der öffentlichen Kritik nichts zu vernehmen als leises Schnarchen.
Falsche Varianten
Als orthographische Varianten verhalten sich Delphin und Delfin; die Formen sind austauschbar. Der Rat für Rechtschreibung gibt auch vielversprechend und viel versprechend als orthographische Varianten aus, und das ist ein Irrtum. Eduard Engel schreibt: »Die Wiederholung darf nicht bloßer Klingklang sein, wie etwa in Platens viel versprechendem und wenig haltendem Gedichtanfang: Wie rafft’ ich mich auf in der Nacht, in der Nacht.« [9] Hier wäre vielversprechend falsch. Und wenn Max Frisch schreibt: »Mit einem Mund voll Brot kann man natürlich nicht erzählen« [10], so gibt es hier keine orthographische Variante Mundvoll.
Unaustauschbar sind auch Handvoll und Hand voll. Gustav Schwab erzählt in seinen »Zwölf Romanzen zur Legende von den heiligen drei Königen«, wie der jüngste, der Mohr, im Stall überwältigt nach einem Geschenk tastet: »Der Jüngling sucht in Thränen heiß, / Und greift – nach einer Handvoll Myrrhe.« [11] In Schwabs Ballade über den kategorischen Imperativ verschweigt der edle Johannes Kant einer Schar von Räubern einen eingenähten »güldnen Sparpfennig« und leistet sogar einen Meineid. Aus schlechtem Gewissen kehrt er zurück: »In hohler Hand beut er ein Häuflein Gold«. Damit rührt er die Räuber: »Und vor der Hand voll Gold / Aufspringen sie, dann werfen sich All’ auf ’s Knie.« [12] Die Reformer haben 1995 das Wort Handvoll durch Aufspaltung abgeschafft, und vergeblich versuchte der Dichter Reiner Kunze, seinen Kollegen und der Sprache zu helfen: »Eine ›Handvoll‹ bedeutet eine betont kleine Menge, eine ›Hand voll‹ dagegen eine Hand, voll von etwas.« [13] Mozart trug im Juni 1791 seiner Frau in einem Brief auf: »Dem Snai einen Arsch voll Complimente – und er soll dem N.N. brav Verdruß machen.« [14] Warum ist der Arschvoll bisher kein Wort geworden, das man in ein Wörterbuch aufnehmen müßte? Der Sprachgebrauch entscheidet. Ihm folgt nun auch der Rat für Rechtschreibung nicht. Wann hätte es das je gegeben, daß Sprachwissenschaftler den Wortschatz ihrer eigenen Sprache nicht verstehen?
Nicht zusammengesetzte Zusammensetzungen
Die Lehre von den zusammengesetzten Verben ist alt. Johann Christoph Adelung schrieb 1782 über die trennbar zusammengesetzten Verben: »Unächte Zusammensetzungen sind solche, welche mit trennbaren Partikeln gemacht werden, das ist, mit solchen Umstandswörtern, welche in manchen Fällen wieder von dem Verbo getrennet, und hinter dasselbe gesetzt werden.« [15] Der Rat folgt dieser Begriffsbestimmung, behandelt aber im entsprechenden Abschnitt seines Regelwerks unvermutet auch solche Verbindungen von Verb und Adjektiv, die immer getrennt geschrieben werden, zum Beispiel bewusstlos schlagen [16]. Es gibt also heute trennbare Zusammensetzungen, die nie zusammengesetzt sind. Woher der Unsinn? Der Rat faßte diesen Paragraphen nicht neu, sondern flickte seine Berichtigungen unter Zeitdruck ins verfehlte Reformwerk hinein. Verantwortlich für die reformierte Getrennt- und Zusammenschreibung ist Burkhard Schaeder. Er schrieb: »Die auf den unmarkierten bzw. Normalfall bezogene Grundregel ist, daß grundsätzlich zwei oder mehr im Satz nebeneinander vorkommende Wörter voneinander getrennt geschrieben werden.« [17] Diese nebeneinander vorkommenden Wörter können aber auch zusammengesetzt sein; den Normalfall, daß getrennt geschrieben würde, gibt es in der deutschen Sprache nicht.
Der besonnene Horst Haider Munske meint zur Sache:
»Hier wird ein Bemühen sichtbar, semantische (und begleitend oft syntaktische und prosodische) Unterschiede im Wortgebrauch in der Schreibung zum Ausdruck zu bringen. Dabei gibt es konkurrierende Mittel, entscheidend ist letztlich der Bedarf nach einer festen Prägung, d. h. die Gebrauchshäufigkeit. Niemand kann solche Entwicklungen vorhersehen, und vor allem sollte niemand im vorhinein festlegen, was erlaubt ist, oder im nachhinein erklären, was verkehrt war. Dieser Sektor der Rechtschreibung läßt sich nicht systematisieren.« [18]
spazierengehen
Jakob Grimm schrieb 1826 in seiner Deutschen Grammatik: »Auch laßen sich nomen mit nomen, nomen mit verbum, partikel mit beiden, partikel mit partikel, nicht aber verbum mit verbum in composition ein.« [19] Anders beobachtet hat es 1824 ein anderer großer Sprachforscher, Karl Ferdinand Becker: »Das Adjektiv wird zum Adverb in großsprechen, blaufärben, wahrsagen u.s.f. Das Verb selbst wird zum Adverb in spazierengehen, stehenbleiben, schlafengehen und manchen Andern.« [20] Friedrich Bauer machte aus Grimms Feststellung eine Anweisung und nannte in seiner Schulgrammatik die Zusammensetzung von Verb mit Verb »unthunlich«. [21] Adolph Diesterweg folgte Becker: »Das Bestimmungswort ist ein Zeitwort. Spazierengehen, schlafengehen, stehenbleiben.« Er fügte die zweifelnde Anmerkung bei: »Kann das Zeitwort mit einem Zeitworte als solchem zusammengesetzt werden?« [22] Die Antwort ist die Gegenfrage, warum das nicht möglich sein soll. Die Sprache macht, was sie will. Nachdem die Reformer 1995 nur kennen lernen, liegen lassen, sitzen bleiben, spazieren gehen hatten gelten lassen [23], erlaubt der Rat für Rechtschreibung nun: »Bei Verbindungen mit bleiben und lassen als zweitem Bestandteil ist bei übertragener Bedeutung auch Zusammenschreibung möglich. Dasselbe gilt für kennen lernen.« [24] Auch das ist Willkür, aber nicht die schöne Willkür unserer Sprache.
Leid und leid, recht und Recht
Adelung nahm 1791 das Adverb leid in sein »Kleines Wörterbuch« auf: »Leid, adv. Es ist mir leid, es thut mir leid.« [25] Daß es neben dem Substantiv noch ein gleichlautendes Wort gibt, welches ganz andere Kraft und Bedeutung hat, spürt jeder – oder spürt es nicht. Ich gebe vier Beispiele.
Hesse: »Es tat ihm leid um die Leiden der Betroffenen, um das Leben der Getöteten, es tat ihm leid um seinen Garten und seine Bücher.« [26]
Tolstoi: »Ich sehe deine Leiden und kann dir gar nicht sagen, wie leid du mir tust!« [27]
Max Frisch spielt mit der Wortart: »Und dann gingen Sie schlafen? – Es war Mitternacht. – Und was tat er? – Er tat mir leid.« [28]
Rainer Maria Rilke sucht den dichterischen Klang: »Etwas steht auf und handelt / und tötet und tut Leid.« [29]
Nach dem Willen der Reformer wurde die Alltagsformel acht Jahre lang mit dichterischem Klang geschrieben. Am 4. Juni 2004 erklärten die Kultusminister in einer Pressemitteilung: »Für den Fall Leid tun wird die neue zusätzliche Variante leidtun (wie teilnehmen, kundtun) eingeführt. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich eine eindeutige Entscheidung für adjektivischen und substantivischen Gebrauch nicht treffen lässt.« Nun fand der Rat für Rechtschreibung mit Hilfe einer Abstimmung heraus, daß es sich bei Leid zwar um ein Substantiv handle, daß aber dennoch nur leidtun zu schreiben sei [30]. Hat er damit eine lachhafte Auseinandersetzung leidlich zu einem Abschluß gebracht, so eröffnet er eine neue, nicht weniger überflüssige, zur Formel: Ich habe recht.
Wieder zeigt sich an einem lebendigen Satz die unterschiedliche Kraft der Wortarten.
Erich Kästner: »Sie haben recht. Doch das Recht, den ersten Stein gegen uns aufzuheben, das haben Sie nicht.« [31]
Jacob Grimm meinte 1837: »analog ist das nhd. (mit dem adj., nicht dem subst. gebildete) ich habe recht. mhd. auch kalt hân (avoir froid).« [32] Der hessische Ministerialrat und Reformer Stillemunkes wußte es in einem Brief vom 29. Januar 2004 besser als Jacob Grimm: »Ganz zweifellos liegt in der Verbindung ›Recht haben‹ ein substantivischer Gebrauch vor. Die Konstruktion ist erkennbar die gleiche wie ›Freude haben‹, ›Angst haben‹ oder ›Hoffnung haben‹ etc. Deshalb ist die Großschreibung in diesem Fall die richtige Lösung.«
Sie war es bis zum 25. November des folgenden Jahres. Auf der Pressekonferenz nach der siebten Sitzung des Rates sagte Ludwig Eichinger, der Leiter des Instituts für Deutsche Sprache: »Recht haben ist sicher so was Ähnliches wie leidtun, und man kann sagen, das ist irgendwie fehl eingeordnet worden, kann man fast sagen.« [33] Die von Eichinger verheißene Wiederherstellung scheiterte offenbar an den Mehrheitsverhältnissen. So gilt bis auf weiteres/Weiteres recht/Recht haben als richtig. Wer wird im Ausland Deutsch lernen, wenn dem Inland die Wortarten zum Rätsel geworden sind?
behände, gräulich
In einem Regelheft des 19. Jahrhunderts lesen wir: »So sind auch folgende Wörter, trotz ihrer Ableitung von einem Stammworte mit dem Vocal a, doch nicht mit ä zu schreiben: Eltern (alt), behende (Hand), gerben (gar), Stengel (Stange), edel (Adel) u. A.« [34] Schulgrammatiken jener Zeit bieten ausführliche Listen von Wörtern, die man mit ä schreiben könnte, im allgemeinen aber bis heute mit e schreibt. Welchen Grund gäbe es, hier etwas zu ändern?
Die Reformer Gerhard Augst und Burkhard Schaeder änderten behende, da heute dem »normalen Sprachteilhaber« behände zu Hand gehöre: »Wer behände ist, ist schnell bei der Hand. Das lässt sich auch nicht durch das ausgedachte Beispiel widerlegen: Er ist behende zu Fuß. Dieser Satz ist einfach schlechtes Deutsch, weil er einen Bildbruch (Katachrese) enthält, ähnlich wie in dem Satz: Die lange Trockenheit ließ die Bauern im Regen stehen.« [35] Mustern wir zwei solcher Bildbrüche. Simon Schaidenreisser läßt 1537 in seiner Übersetzung der »Odyssee« einen der Freier rufen: »Lieben gesellen lauff ainer behend auff den gang hinauff und mach ain geschray zu den nachpauren umb hilff.« [36] Brecht dichtet: »Eine Kugel kam behende / Riß vom Leib ihm beide Hände.« [37] Augst und Schaeder machen unsere Dichter zu Tölpeln. Warum folgt ihnen der Rat für Rechtschreibung?
Das Adjektiv gräulich soll seit über zehn Jahren nicht nur die Farbe bedeuten, sondern auch das Gefühl (bisher greulich). Stefan Andres erzählt in seinem autobiographischen Roman »Der Knabe im Brunnen«, wie der kleine Steff auf einem Erkundungsgang durch einen Bach watet und einer Ziege begegnet. Reformiert liest sich das so: »Hier stand ein Tier [...]. Ich musste entweder an ihm vorübergehen oder wieder in das gräuliche Gewässer zurücksteigen.
[...] Nachdem ich all diesen gräulichen Schmutz im Bach gesehen hatte, erschien mir das Weiß der Tierhaare so hell wie das Hemd des Christkindes.« [38] Andres setzte beide Male greulich; das reformierte gräulich knüpft seine Sätze zum unlösbaren Rätsel.
Das Eszett
In der Schweiz wird das Eszett seit langem in Presse und amtlichem Verkehr nicht verwendet. In den Schulbüchern freilich, sofern sie aus Deutschland und Österreich kommen, und in vielen Büchern der Schweizer literarischen Verlage steht es. Nach einem Hinweis auf die Schweiz schrieb der Reformer Hermann Zabel 1985: »Da die Einheitlichkeit im Bereich der s/ss/ß-Schreibung für den deutschen Sprachraum nicht mehr vorhanden ist, bietet sich eine Neuregelung dieses Bereichs geradezu an.« [39] Der Einbrecher sucht die schwache Stelle, wo er einsteigen kann. Unzufrieden mit dem ersten Erfolg, beantragte der Schweizer Reformer und Rechtschreibrat Gallmann: »Es ist zu diskutieren, ob auf den Buchstaben Eszett (ß) gänzlich verzichtet werden soll.« [40] Schon jetzt ist es für die kleine Schweiz eine große Ehre, daß Deutschland und Österreich ihretwegen die ganze deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts entwerten und entsorgen.
jedesmal
Wilhelm von Humboldt schrieb in seiner grundlegenden Untersuchung über Wortverwandtschaft und Wortform:
»Man kann den Wortvorrath einer Sprache auf keine Weise als eine fertig daliegende Masse ansehen. Er ist, auch ohne ausschließlich der beständigen Bildung neuer Wörter und Wortformen zu gedenken, so lange die Sprache im Munde des Volks lebt, ein fortgehendes Erzeugniß und Wiedererzeugniß des wortbildenden Vermögens, zuerst in dem Stamme, dem die Sprache ihre Form verdankt, dann in der kindischen Erlernung des Sprechens, und endlich im täglichen Gebrauche der Rede. Die unfehlbare Gegenwart des jedesmal nothwendigen Wortes in dieser ist gewiß nicht bloß Werk des Gedächtnisses. [...] Sprache und Leben sind unzertrennliche Begriffe, und die Erlernung ist in diesem Gebiet immer nur Wiedererzeugung.« [41]
Es ist von symbolischer Bedeutung, daß die Reformer und der Rat für Rechtschreibung das harmlose Wort jedesmal, welches unser wortbildendes Vermögen aus der Wendung jedes Mal schafft, verbieten wollen.
Die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK)
In der Schweiz schlossen sich im letzten Jahr Zeitungen und literarische Verlage zur Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) zusammen. Seither hat eine Arbeitsgruppe umfangreiche Untersuchungen zum deutschen Wortschatz angestellt und auf verschiedenen Tagungen Empfehlungen ausgegeben, zuletzt am 7. Mai im Zürcher Hotel Greulich (nomen est omen). Diese Empfehlungen entsprechen zum Teil den Hausorthographien großer deutscher Zeitungen, gehen aber in einigen Bereichen bereits darüber hinaus.
Warum ist diese Arbeit heute nötig? Weil der Rat für Rechtschreibung seine Arbeit nicht getan hat. Woran liegt das? Der Rat ist zu groß, und zu viele seiner Mitglieder haben keine Zeit, sich mit den Dingen zu befassen. Beherrscht wird der Rat von geschäftsklugen Verlegern, die sich nicht um unsere Sprache kümmern, und von den Vorgaben schlechter Politiker.
Die Mitgliederversammlung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung faßte am 11. Mai 2006 diesen Beschluß:
»Die inzwischen erfolgte Reform der Rechtschreib›reform‹ ist zwar sehr zu begrüßen. Doch enthält das vorliegende Ergebnis noch so viele gravierende Mängel, daß auf seiner Basis die Wiederherstellung einer überwiegend einheitlichen Schreibung nicht gelingen kann. Es empfiehlt sich daher keineswegs, es bei dieser noch durchaus unbefriedigenden Lösung zu belassen und sie als längerfristig gültig anzusehen. Dadurch würden die notwendigen weiteren Reformen sehr erschwert.« [42]
Das ist mit akademischer Zurückhaltung gesprochen. Braucht es die Offenheit des Kynikers, um zu sagen, daß auch dieses dritte reformierte Regelwerk eine Schande für unsere Sprache, Wissenschaft und Politik ist? Was Peter Eisenberg, ein Kenner, 2004 von einem Teil der Neuregelung sagte: »Hoffen wir, daß der Schreibusus die Neuregelung zur Getrennt- und Zusammenschreibung bald übergeht« [43], das gilt heute noch von allen ihren Kernbereichen. Hoffen reicht nicht. Je länger man wartet, desto höher werden die Kosten [44]; es gibt auch Kosten, die sich nicht in Franken oder Euro messen lassen.
Die Räte für Rechtschreibung müssen sich klarmachen, wofür genau sie mit ihrem Namen einstehen. Der amtliche Übergriff auf die Freiheit der Wissenschaft ist zurückzuweisen.
Dieser Beitrag ist dankbar Frau Heike Schmoll, Bildungsredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gewidmet.
Stefan Stirnemann ist Mitglied der Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (www.sok.ch). Von ihm erschien bereits in K.A. 1/2004 der Aufsatz »Unsere Sprache und die Rechtschreibregeln von 1996. Zusammengesetzte Wörter im Zeitalter der Rechtschreibreform«, der im Internet unter www.kritische-ausgabe.de zur Ansicht bereitsteht.
[1] Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Hg. vom Rat für deutsche Rechtschreibung. Tübingen 2006.
[2] Peter Gallmann: Anträge zur Behandlung im Rat für deutsche Rechtschreibung, Rundschreiben an die Mitglieder des Rates vom 11. Januar 2005. Matthias Wermke: dass., 12. Januar 2005.
[3] Vgl. die Aussage der brandenburgischen Wissenschaftsministerin Wanka, vormals Präsidentin der Kultusministerkonferenz: »Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.« (Der Spiegel 1/2006)
[4] Der Wortlaut der Pressekonferenz ist greifbar auf der Netzseite Peter Müllers, des Direktors für Marketing und Informatik der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA): www.peteremueller.ch (Rubrik Links).
[5] Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Vorlage für die amtliche Regelung. Tübingen 1995, S. 104.
[6] Renate Häcker-Osswald, Roland Häcker: Neue Schreibung leicht gelernt. Arbeitsheft zur Rechtschreibreform, Ausgabe für die Schweiz. 2., verbesserte und erweiterte Aufl., Stuttgart 1997 (Nachdruck 2003), S. 25.
[7] Deutsche Rechtschreibung 2006, a.a.O., S. 36.
[8] Vgl. Karl Ferdinand Becker: Ausführliche Grammatik als Kommentar der Schulgrammatik. Erste Abtheilung. Frankfurt am Main 1836, S. 141.
[9] Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Einunddreißigste, neubearbeitete Aufl., Leipzig 1931, S. 363.
[10] Max Frisch: Stiller, in: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985, Band III. Hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz,. Frankfurt a.M. 1998, S. 403.
[11] Gustav Schwab: Die Legende von den heiligen drei Königen […] mit zwölf Romanzen begleitet. Stuttgart 1822, S. 30.
[12] Ders.: Gedichte. Neue Auswahl. Stuttgart 1838, S. 250.
[13] Reiner Kunze: Die Aura der Wörter. Denkschrift zur Rechtschreibreform. Neuausgabe mit Zwischenbilanz. Stuttgart 2004, S. 10. Vgl. Theodor Ickler: Falsch ist richtig. Ein Leitfaden durch die Abgründe der Schlechtschreibreform. München 2006, S. 56.
[14] [Wolfgang Amadeus] Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch. Band IV: 1787-1857. Kassel u.a. 1963, S. 140.
[15] Johann Christoph Adelung: Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. Erster Band. Leipzig 1782, S. 862.
[16] Vgl. Deutsche Rechtschreibung 2006, a.a.O., S. 38.
[17] Burkhard Schaeder: Getrennt- und Zusammenschreibung – zwischen Wortgruppe und Wort, Grammatik und Lexikon. In: Gerhard Augst, Karl Blüml, Dieter Nerius, Horst Sitta (Hgg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen 1997, S. 191.
[18] Horst Haider Munske: Lob der Rechtschreibung. Warum wir schreiben, wie wir schreiben. München 2005, S. 104.
[19] Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Zweiter Theil. Göttingen 1826, S. 405.
[20] Karl Ferdinand Becker: Die Deutsche Wortbildung oder die organische Entwickelung der deutschen Sprache in der Ableitung. Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1824, Hildesheim 1990, S. 387. (Hier kursiv dargestellte Wörter im Original gesperrt.)
[21] Friedrich Bauer: Grundzüge der Neuhochdeutschen Grammatik für höhere Bildungs-Anstalten. Für Oesterreich bestimmte Ausgabe. 18. Aufl., Nördlingen
1877, S. 108.
[22] Adolph Diesterweg: Praktischer Lehrgang für den Unterricht in der deutschen Sprache. Ein Leitfaden für Lehrer. Erster Theil: Die Wortbildung, Rechtschreibung und erste Anleitung zur Satz- und Aufsatzbildung. Sechste, verbesserte Aufl., Bielefeld 1852, S. 95.
[23] Deutsche Rechtschreibung 1995, a.a.O., S. 39.
[24] Deutsche Rechtschreibung 2006, a.a.O., S. 39.
[25] Johann Christoph Adelung: Kleines Wörterbuch für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung [...]. Wien 1791, S. 268.
[26] Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. Stuttgart 1998, S. 600.
[27] Leo Tolstoi: Anna Karenina. Aus dem Russischen übertragen von Fred Ottow. München 1955, S. 89.
[28] Max Frisch: Blaubart, in: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985. Hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Band VII. Stuttgart 1998, S. 366.
[29] Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. Dritte Aufl., Frankfurt a.M. 1987, S. 345.
[30] Deutsche Rechtschreibung 2006, a.a.O., S. 38.
[31] Erich Kästner: Notabene 45. Ein Tagebuch, in: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. Band VI. München 1998, S. 406.
[32] Deutsche Grammatik. Vierter Theil. Göttingen 1837, S. 626 (Anm.).
[33] Vgl. Fußnote 4.
[34] Anleitung zur deutschen Rechtschreibung. Ausgabe für Elementarclassen der höheren Schulen und für Mittel- und Volksschulen. 3. Aufl., Hannover 1868, S. 10.
[35] Gerhard Augst, Burkhard Schaeder: Rechtschreibreform. Eine Antwort an die Kritiker. Stuttgart 1997, S. 16.
[36] Odyssea / das seind die aller zierlichsten vnd lustigsten vier vnd zwaintzig bücher des eltisten kunstreichesten Vatters aller Poeten Homeri / zu Teütsch tranßferiert […] durch Simon Schaidenreisser. Faksimiledruck der Ausgabe Augsburg 1537, hg. i.A. der Grimmelshausen-Gesellschaft von Günther Weydt und Timothy Sodmann. Münster 1986, S. 92 r.
[37] Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 1219.
[38] Stefan Andres: Der Knabe im Brunnen. München 2006, S. 74.
[39] Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung. Herausgegeben von der Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache. Mannheim 1985, S. 156.
[40] Peter Gallmann, a.a.O.
[41] Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts (1836). Faksimilegetreuer Nachdruck mit Lesarten und einem Nachwort von Ewald Wasmuth. Berlin 1935, S. 109 f. [Kursive: St. St.]
[42] http://www.deutscheakademie.de/druckversionen/Resolution_MV_2006-05-11.html [Stand: 01.05.2007]
[43] Peter Eisenberg: Grundriß der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Stuttgart/Weimar 2004, S. 342.
[44] Wolfgang Denk: 10 Jahre Rechtschreibreform. Überlegungen zu einer Kosten-Nutzen-Analyse. Masterarbeit, Fachhochschule München, 2007. Vgl. http://www.reformkosten.de.
Diesen Beitrag drucken.
Kommentare zu »Die Rechtschreibreform und die Wissenschaft« |
Kommentar schreiben | älteste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben |
Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 19.08.2007 um 12.44 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=548#6178
|
Die Bürokratie obsiegt gewaltiglich
„Die auf den unmarkierten bzw. Normalfall bezogene Grundregel ist, daß grundsätzlich zwei oder mehr im Satz nebeneinander vorkommende Wörter voneinander getrennt geschrieben werden“ (Schaeder).
Allein der Ausdruck zwei oder mehr im Satz nebeneinander vorkommende Wörter ist eine Blüte der Einfalt. Woher weiß denn der in Schreibnot Geratende bzw. Gebrachte, welche Wörter in der zu verschriftenden Äußerung selbständige Wörter sind und welche unselbständige Wortelemente (von Wörtern, die der Duden-Redaktion zufällig im Bewußtsein sind)?
„Niemand kann solche Entwicklungen vorhersehen, und vor allem sollte niemand im vorhinein festlegen, was erlaubt ist, oder im nachhinein erklären, was verkehrt war“ (Munske).
Eine Warnung vor Einfalt, Phantasielosigkeit und Regelungswut.
Dazu Stirnemann: „Wer wird im Ausland Deutsch lernen, wenn dem Inland die Wortarten zum Rätsel geworden sind?“
Konsistent definierte Wortarten und deutsche Syntax sind dem RfdR Fisimatenten, denn er hat "Höheres" im Auge als Profanes wie deutsche Grammatik. Außerdem sind dem RfdR die Arglosen im Ausland, die trotz allem Deutsch lernen wollen, völlig gleichgültig.
Die Geschäftsführerin des RfdR Güthert plaudert aus dem Nähkästchen: „Der RfdR hat sich nach eingehender Diskussion dafür ausgesprochen, das betreffende Beispiel im Beispielblock zu § 33(1) zu belassen. Der Grund dafür war allein pragmatischer Natur: da das Regelwerk 2004 die Grundlage der Arbeit RfdR darstellte, hat der RfdR nur für die Stellen des amtlichen Regelwerks Änderungen vorgesehen, an denen eine andere Schreibung beabsichtigt war. Da dies auf handhaben nicht zutrifft, wurde keine Änderung vorgeschlagen. Die Art der Regeldarbietung selbst, die zwischen ›populärwissenschaftlich‹ und ›wissenschaftlich‹ anzusiedeln ist, hat auch im Rat zu Diskussionen geführt. Diese wurde aber als untergeordnet eingestuft."
Der die "Geschäfte" führenden Frau Güthert ist unwichtig, daß handhaben nicht auf ein Syntagma, sondern auf ein Nomen zurückgeht (die Wissenschaft!). Ihre Miniwelt das "Regelwerk" von 2004. So erfährt das Publikum letztlich, daß Schreibungen par excellence bürokratisch verordnet werden. "Zwischen ›populärwissenschaftlich‹ und ›wissenschaftlich‹" ist griechisch utopía und deutsch der Titel eines Romans von Christa Wolf. Genau dort, d.h. im bürokratischen Raum, befindet sich der RfdR / RfDR.
|
nach oben
Zurück zur vorherigen Seite | zur Startseite
|