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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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06.06.2006
 

Schweizer Orthographische Konferenz
Communiqué

Lesen Sie hier den Wortlaut der Empfehlung „Herkömmliche Rechtschreibung bei Varianten“ sowie weitere Pressestimmen dazu.


Herkömmliche Rechtschreibung bei Varianten

Zürich, 1. Juni. Die Schweizer Orthographische Konferenz hat an ihrer Tagung vom 1. Juni eine Empfehlung an die Presse und die Buchverlage in der Schweiz verabschiedet, bei Varianten in der Rechtschreibung die herkömmliche Schreibweise zu verwenden.

Die Befolgung des Grundsatzes "Bei Varianten die herkömmliche" ist nach Ansicht der Konferenz die beste Voraussetzung dafür, eine grössere Einheitlichkeit in der Rechtschreibung von Presse und Buchverlagen zu erreichen. Dies ist das Hauptziel der Schweizer Orthographischen Konferenz.

Der Grundsatz bedeutet, dass beispielsweise aufwendig (nicht: aufwändig), kennenlernen (nicht: kennen lernen), fleischfressende Pflanzen (nicht: Fleisch fressende), er hat recht (nicht: Recht) geschrieben wird.

Die Empfehlung wird auch der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), der Bundeskanzlei und dem Rat für deutsche Rechtschreibung übermittelt.

Die Konferenz wird eine Arbeitsgruppe einsetzen, die Wörterlisten erstellen soll für Fälle, wo der Grundsatz nicht anwendbar ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wo in der neuen Rechtschreibung zwei Varianten bestehen, aber keine der herkömmlichen Schreibweise entspricht. Ebenso sollen Wörterlisten für schweizerische Besonderheiten bei der Eindeutschung von Fremdwörtern erstellt werden. Die Arbeitsgruppe wird sich ausserdem mit den Bereichen befassen, wo herkömmliche Varianten noch nicht wieder zugelassen sind.

An der Konferenz waren unter anderen die Weltwoche, die NZZ, das St. Galler Tagblatt, der Tages-Anzeiger, die Mittelland-Zeitung, der Walliser Bote, die Basellandschaftliche Zeitung und der Zürcher Oberländer, Verlage wie Diogenes, Nagel & Kimche und Schwabe sowie die Nachrichtenagenturen SDA, AP und Sportinformation vertreten. Teilgenommen haben auch die Bundeskanzlei und Vertreter aus Deutschland wie die FAZ und der Sprachwissenschafter Horst Haider Munske (Erlangen).

Die Gesellschaft Schweizer Orthographische Konferenz will die Einheitlichkeit der Rechtschreibung innerhalb der Presse und von Presse und Literatur in der Schweiz fördern. Gründungsmitglieder sind unter anderen Urs Breitenstein (Schwabe Verlag), Filippo Leutenegger (Jean Frey), Robert Nef (Schweizer Monatshefte), Peter Müller (SDA), Rudolf Wachter (Universität Basel) und Peter Zbinden (Sprachkreis Deutsch).


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Neue Zürcher Zeitung
2. Juni 2006

Im Zweifelsfall alte Orthographie empfohlen

Zürich, 1. Juni. (sda) Wo der Rat für deutsche Rechtschreibung Varianten der neuen Rechtschreibung zulässt, soll in der Schweiz inskünftig die herkömmliche Schreibweise verwendet werden. Dies empfiehlt die Schweizer Orthographische Konferenz den Medien und den Buchverlagen. Konkret bedeutet dies, dass inskünftig «aufwendig» statt «aufwändig», «kennenlernen» statt «kennen lernen», «fleischfressende Pflanze» statt «Fleisch fressende Pflanze» und «er hat recht» statt «er hat Recht» geschrieben wird. Eine Arbeitsgruppe der Konferenz wird Wörterlisten erstellen für jene Fälle, in denen dieser Grundsatz nicht anwendbar ist.

Seitens der Medien waren an der Tagung der Orthographischen Konferenz unter anderem die «Neue Zürcher Zeitung», das «St. Galler Tagblatt», der «Tages-Anzeiger» und die «Mittelland-Zeitung» vertreten.


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St. Galler Tagblatt
3. Juni 2006

Alte Schreibweisen bevorzugen

Bei Varianten der neuen deutschen Rechtschreibung soll in der Schweiz inskünftig die herkömmliche Schreibweise verwendet werden. Dies empfiehlt die Schweizer Orthographische Konferenz den Medien und den Buchverlagen. Die Empfehlung wurde auf einer Tagung in Zürich verabschiedet. Die Befolgung des Grundsatzes, bei Varianten die herkömmliche Schreibung zu benutzen, sei die beste Voraussetzung, um eine grössere Einheitlichkeit zu erreichen.

Die Empfehlung werde auch der Erziehungsdirektorenkonferenz, der Bundeskanzlei und dem Rat für deutsche Rechtschreibung übermittelt. Die Konferenz will eine Arbeitsgruppe einsetzen, die Wörterlisten für Sonderfälle erstellt. Seitens der Medien waren unter anderem die «Neue Zürcher Zeitung», das «St. Galler Tagblatt», der «Tages-Anzeiger», die «Mittelland Zeitung» und der «Zürcher Oberländer» vertreten, von Verlagsseite nahmen Nagel & Kimche, Diogenes und Schwabe teil, dazu die Nachrichtenagenturen sda, ap und si. (sda)


(www.tagblatt.ch)

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Mittelland-Zeitung
2. Juni 2006

Die Rechtschreibreform soll reformiert werden
Vorschläge Schweizer Orthographische Konferenz an der Arbeit


Die Nöte mit der Reform der deutschen Rechtschreibung sind noch nicht ausgestanden. Klar ist bloss: Besonders sinnlose Änderungen sollen rückgängig gemacht werden. Doch wer garantiert Verbindlichkeit?

Hans Fahrländer

1996 wurde, erstmals in der Geschichte, ein revidiertes Sprachregelwerk von oben diktiert, von den deutschen Kultusministern sozusagen politisch verordnet, und es ist, wie man weiss, nicht gut herausgekommen. Neben sinnvollen Anpassungen standen nicht nachvollziehbare Zurechtbiegungen - und überfällige Vereinfachungen fehlten. Trotzdem, es war nun mal so und auch Schweizer Schulen und Verwaltungen übernahmen auf Weisung der Erziehungsdirektorenkonferenz und der Bundeskanzlei die meisten Änderungen. Auf Distanz gingen grosse deutsche Zeitungsverlage und in der Schweiz die NZZ-Gruppe: Sie führten ihre eigenen «Hausorthografien» ein oder verweigerten sich der Reform zum Teil ganz. Die Verlage der Mittelland Zeitung lehnten sich an das Regelwerk der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» an - das hiess: Übernahme von 80 bis 90 Prozent der Änderungen.

Varianten stiften Verwirrung

Nachdem im gesamten deutschen Sprachraum die Kritik nicht verstummen wollte, konstituierte sich 2004 unter dem Vorsitz des ehemaligen bayrischen Staatsministers Hans Zehetmair ein 36-köpfiger Rat für deutsche Rechtschreibung, welcher die Reform auf Reformbedarf hin untersuchte. Zum grossen Teil sassen darin allerdings die Reformer von 1996, auch in der Schweizer Delegation. Entsprechend kamen aus dem Rat bisher überwiegend zweideutige Signale - beziehungsweise Varianten: Neben der neuen soll in bestimmten Fällen auch wieder die alte Schreibweise gelten. Anhörungen bei betroffenen Kreisen fanden nicht statt. Das Ergebnis sind eine grosse Unsicherheit, fehlende Verbindlichkeit und fehlende Legitimation.

In dieser Situation trafen sich auf Initiative von Peter Zbinden, Präsident des Vereins Sprachkreis Deutsch, und von Filippo Leutenegger, CEO des Verlags Jean Frey, in Zürich sprachbesorgte Bürgerinnen und Bürger zur Schweizer Orthografischen Konferenz: Schriftsteller, Gymnasiallehrer, Buchhändler, Vertreter von Zeitungsverlagen und Redaktionen, von literarischen Verlagen, von Nachrichtenagenturen, aus der Bundeskanzlei - im Kreis der geballten Sprachkompetenz fehlten bloss die Volksschullehrkräfte und die Schulbuchlobby.

Bei Varianten die herkömmliche

Nach Referaten von zwei eher konservativ ausgerichteten Sprachwissenschaftern, Rudolf Wachter von der Universität Basel und Horst H. Munske von der Universität Erlangen, diskutierte die Konferenz einen Vorschlag von Peter Müller, bei der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) zuständig für Rechtschreibung: Wo gemäss dem Rat für Rechtschreibung mehrere Varianten erlaubt sind, sollen sich die Schreibenden in der Schweiz stets für die herkömmliche, das heisst die vor 1996 gültige entscheiden.

«Früh reif» oder «frühreif»?

Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann zeigte, wie orthografische (oder orthographische) Änderungen im Reformeifer zu Bedeutungsänderungen geführt haben. Kommt «behände» wirklich von «Hand»? Und «aufwändig» von «Aufwand»? Nicht von «aufwenden»? Soll man «Fleisch fressend» oder «fleischfressend» schreiben? Und «früh reif»? Ist «nahe stehend» dasselbe wie «nahestehend? Ist der «Zierrat» ein Rat?

An einem abschliessenden Podium gab es auch Stimmen, die zur Zurückhaltung mit eigenen Regeln und Wortlisten gemahnten. «NZZ»-Chefredaktor Markus Spillmann warnte davor, im deutschen Sprachraum eine Sprachinsel Schweiz zu schaffen, und Autor und Gymnasiallehrer Pirmin Meier erinnerte an die Schüler, für welche die neue Rechtschreibung nicht die neue, sondern die einzig gelernte und gültige ist.




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Kommentare zu »Communiqué«
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.02.2007 um 21.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#5664

Hinweis: Dieses Communiqué gibt es hier als PDF-Datei.


Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 04.07.2006 um 14.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4408

"Da hast du wahr." (Bei Google Hunderte von Treffern allein für diese Formulierung) - In Drucken des 16. und 17. Jhs. sollte das gut belegbar sein; das jüdisch-deutsche "Geschichtenbuch" (1602) etwa hat für "du hast recht" stets "du hast wahr". (Nein, das ist kein Jiddisch; dort steht dafür "du bisst gerecht".)


Kommentar von Germanist, verfaßt am 29.06.2006 um 18.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4384

Wenn "Partikel" in der Grammatik "unveränderliche Wörter" sind, dann fallen darunter auch unveränderliche Adjektive wie "rosa", "lila" und unveränderliche Substantive wie "Relais". Es scheint eine Worthülse ohne Inhalt zu sein.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 29.06.2006 um 17.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4383

Die Beiträge in dieser langen Diskussion regen mich dazu an, folgende Grundsatzfrage aufzuwerfen:
Worauf beruhen eigentlich all diese Aussagen über „Desubstantivierung“, „verblaßtes Substantiv“ usw.? Im Einzelfall gehen doch die Meinungen sehr auseinander. So sprach der alte Duden seit jeher bei „leid tun“ von einem verblaßten Substantiv. Laut Prof. Ickler ist „leid“ in dieser Wendung aber eindeutig ein Adjektiv und die Schreibung „Leid tun“ daher „grammatisch falsch“.
Andererseits spricht Prof. Ickler bei „recht haben“ von Desubstantivierung. Nach Herrn Jochems sieht das Duden-Stilwörterbuch von 1963 darin ein verblaßtes Substantiv.
Mein Duden von 1961 verweist dagegen unter dem Eintrag „recht haben“ (unter dem Stichwort „recht“) auf einen Passus im Regelteil, der sich anscheinend mit substantivisch gebrauchten „Eigenschaftswörtern“ befaßt, insbesondere in „unveränderlichen Verbindungen“ („alt und jung“, „den kürzeren ziehen“). Etwas verwirrend ist aber die nachfolgende Anmerkung, wonach „in einzelnen Fällen noch groß geschrieben wird, weil die hauptwörtliche Bedeutung überwiegt (“ins Schwarze treffen“). Was heißt hier „noch“? Wurde etwa „alt und jung“ früher groß geschrieben? Handelt es sich somit womöglich um substantivierte Adjektive, die später dann wieder desubstantiviert worden sind?
Andererseits behandelt mein alter Wahrig die Wendungen „recht haben“, „recht bekommen“ usw. unter dem Adjektiv „recht“ und bezeichnet „Recht“ als substantiviertes Adjektiv. Erstaunlicherweise übersetzt er aber die Wendung „im Recht sein“ als „recht haben“. M.E. haben die beiden Wendungen durchaus unterschiedliche Bedeutung.

Dieses ganze Durcheinander läßt mich doch sehr an der Fundiertheit all dieser Aussagen zweifeln.

Diese Beispiele zeigen auch, wie ich meine, daß es ein Irrweg ist, die Rechtschreibung auf Wortartunterscheidungen aufbauen zu wollen. Hier gilt die alte Redewendung: Die Fachleute streiten und der Laie wundert sich. Erstens ist es fraglich, ob die Wortarten der herkömmlichen, ursprünglich an den alten Sprachen entwickelten Grammatik überhaupt eine angemessene Beschreibung des Deutschen sind; zweitens kann ja jeder nach Belieben neue Wortarten (oder grammatische Begriffe?) definieren (Partikel, Resultativprädikative, Subjektsprädikative usw., usw.).
Schließlich führt die Wortartenunterscheidung zu nichts anderem als tautologischen Regeln – schon im alten Duden, erst recht aber in den amtlichen Regeln wegen der aufgeblähten Regelungsdichte. Ob ein Substantiv verblaßt ist oder nicht, erkenne ich eben nur daran, ob es groß oder klein geschrieben wird. Ob ein „neuer Begriff“ entstanden ist, erkennt man daran, ob getrennt oder zusammen geschrieben wird.
So rühmt sich der RSR nun in seinem Bericht, Partikel und Verben würden jetzt „ausnahmslos“ zusammengeschrieben. Leider ist der Begriff „Partikel“ nicht klar definiert. Also gilt auch hier die Tautologie, daß eine Partikel ist, was zusammengeschrieben wird.

Solange aber im Deutschen die Substantivgroßschreibung gilt, werden wir wohl nicht ganz von der Wortartenunterscheidung in der Rechtschreibung herunterkommen.



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 15.06.2006 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4307

"Der Intensivierer bezieht sich zweifellos auf den gesamten Verbalkomplex..." - vgl. auch
Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold!
Wie im Morgenglanze du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter!



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.06.2006 um 08.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4305

Hier ist noch ein hübsches Beispiel für stellungsbedingte Intensivierung:
"Doch ausländische Investitoren hielten sich bisher äußerst zurück." (Nürnberger Nachrichten 7.2.2000). Der Intensivierer bezieht sich zweifellos auf den gesamten Verbalkomplex und nicht nur auf "zurück".


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 14.06.2006 um 20.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4302

Wieso „empfiehlt“? Die Regeln schreiben nach wie vor bestimmte Schreibungen vor und lassen eventuell weitere zu, aber empfohlen wird da nix.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 14.06.2006 um 15.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4300

Empfiehlt die Revision von 2006 auch diese Schreibungen : "abhandengekommen", "vonstattengegangen", etc.?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 14.06.2006 um 11.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4299

Bekanntlich gibt es unter Mathematiklehrern auch solche, die Warum-Fragen ihrer Schüler mit der Gegenfrage beantworten, "Wie heißt die Regel?" Sie gelten als schlechte Lehrer. Hartmut von Hentig macht dem Rechtschreibunterricht vor und nach 1996 den Vorwurf, ebenfalls dem Bedürfnis der Schüler nach einleuchtenden Erklärungen nicht entgegengekommen zu sein. Hier sei ein Wandel nötig, und nicht in der Rechtschreibung selbst. Die souveräne, gegen Modeströmungen immune Sprachdidaktik hat immer schon gewußt, daß es auf Einsicht ankommt, die vom konkreten sprachlichen Tatbestand ausgeht und zu einem Merksatz hinführt, der von dieser Dreistufigkeit lebt und nicht mit einer mechanischen Regel verwechselt werden darf. Gegen diesen Hintergrund läßt sich die gegenwärtige Diskussion über "recht haben" als ein Beispiel des von Hartmut von Hentig Geforderten sehen - "Aufmerksamkeit und Prüfung" (Valerio 3, S. 47)

Vielleicht sollte man hier darauf hinweisen, daß "recht haben, bekommen, behalten, geben, tun" Phraseologismen sind, Wortgruppenlexeme also "mit einer stabilen morphologischen Struktur und einer komplexen, nicht immer motiviert erscheinenden Bedeutung" (Gläser 1986, S. 13). Die von den Reformern so gründlich mißverstandene Univerbierung gehört in diesen Zusammenhang. Vermutlich wird sich daher kein Widerspruch dagegen erheben, daß die Revision von 2006 nun auch diese Schreibungen empfiehlt: "abhandenkommen", "vonstattengehen", "zugutehalten", "zugutekommen", "zunichtemachen", "zupasskommen", "zuteilwerden".

Bei einem Gespräch über "recht haben" und "das Recht haben" werden die Schüler schnell bemerken, daß letzteres "Recht" keineswegs immer im juristischen Sinne gemeint ist. Im Grunde unterscheiden die beiden Schreibungen Fälle "in Übereinstimmung mit den Tatsachen" und "in Übereinstimmung mit als verbindlich akzeptierten Regelungen bzw. gesetzlichen Vorschriften". Der fehlende Artikel in "recht haben" macht in mündlicher Rede die beiden Wendungen unterscheidbar. Schriftlich kommt die auch sonst ähnlich fungierende Kleinschreibung hinzu. Wie bei "Hohn sprechen" / "hohnsprechen" ist sie jedoch keine unerläßliche Zutat.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2006 um 18.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4297

Was Sie zu "recht/Recht" und den mutmaßlichen Gedanken des Wörterbuchbenutzers übers BGB usw. schreiben, lieber Herr Jochems, scheint mir ziemlich überinterpretiert, aber das mag auf sich beruhen.
Mit dem anderen Punkt sprechen Sie etwas sehr Interessantes an, die Intensivierbarkeit von Prädikatsausdrücken unterschiedlicher Form. Hentigs "wie" bezieht sich meiner Ansicht nach auf "langweilt" und nichts anderes. Er will offenbar sagen, daß ihn sein Auftrag sehr langweilt, und kann gar nicht sagen, wie sehr. Bei Verbzusatzkonstruktionen läßt sich der ganze Ausdruck intensivieren, indem man den Zusatz in den Fokus des Intensivierers stellt. Dabei kommt es aufgrund deutscher Satzgliedstellung zu Stellungsbeschränkungen. Ich kann sagen "daß es mich mehr als befriedigt", "daß es mich mehr als zufriedenstellt", "es stellt mich mehr als zufrieden" (wo immer noch der ganze Ausdruck und nicht nur der Zusatz intensiviert ist), aber nicht mit Verbzweitstellung "*es befriedigt mich mehr als". Der Fokus braucht eben eine Füllung. An diesem Thema bin ich schon länger interessiert und habe allerlei dazu gesammelt.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.06.2006 um 17.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4296

In meinem Ickler (4. Aufl., 2004) finde ich die Lemmata "recht" und "Recht". Unter "recht": "nicht recht haben" aber "kein Recht haben", unter "Recht" wiederum: "kein Recht haben". Das ist für "normale" Schreiber leicht irreführend, wenn sie nämlich annehmen, alle Wendungen unter "recht" hätten mit der Überprüfung von Tatsachen und alle unter "Recht" mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu tun. Größere Wörterbücher könnten das mittels Satzbelegen klarmachen: "Wer behauptet, 'Handy' sei ein Wort aus dem Englischen, hat nicht recht" vs. "Die Stadt möchte das Grundstück gerne enteignen, aber dazu hat sie kein Recht." Rechtschreibung hat mit Bedeutung zu tun, was die Benutzbarkeit rein orthographischer Wörterbücher einschränkt.

Zu den strukturellen Betrachtungen: Hartmut von Hentig beginnt seinen Beitrag in Valerio 3/2006 mit dem Satz "Wie mich mein Schreibauftrag langweilt!" Hier hat niemand Zweifel, was das einleitende "wie" näher bestimmt - alles, was folgt. Der Skopus von satzeinleitendem "wie" wäre aber auch bei "Wie recht du hast!" zu untersuchen: Ist es wirklich nur "recht", wie hier zur negativen Wortartbestimmung vorgetragen wird?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2006 um 15.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4293

Habe ich den folgenden Gedanken schon mal geäußert oder wollte ich es bloß? Man kann "Stellung nehmen" auf zweierlei Art verneinen und tut es auch (ich habe die SZ durchgesehen): "nicht Stellung nehmen" und "keine Stellung nehmen". Beides ist gleichbedeutend. Das ist nicht der Fall bei "nicht recht haben" und "kein Recht haben". Mir gefallen solche strukturellen Betrachtungen, weil sie innerhalb des Deutschen bleiben.


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 13.06.2006 um 14.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4289

Ich habe in dreißig Jahren Übersetzertätigkeit gefunden, daß sich zwei verschiedene Sachverhalte - wie also "recht haben" oder "das Recht haben" - natürlich auch verschieden ausdrücken lassen, wenn auch nicht notwendigerweise mit denselben Worten. Was den interessanten Hinweis auf "ha rätt" im Schwedischen betrifft, habe ich sicherheitshalber meinen schwedischen Partner nochmals befragt, der meine Meinung hier bestätigt. Bei "ha rätt" gibt es auch eine obligatorische Differenzierung:

Han har rätt = er hat recht

aber

Han har rätt att parkera här = er hat das Recht, hier zu parken.

Das Wörtchen "att" ist dann unbedingt nötig, um "das Recht" auszudrücken.

Ganz unabhängig von dieser Diskussion möchte ich nochmals darauf hinweisen, daß die versuchte Verwischung von Differenzierungsmöglichkeiten im Rahmen der "Reform" für Übersetzer den absoluten Horror darstellt. Was das Deutsche betrifft, ist dadurch jetzt die Situation entstanden, daß andere gängige Sprachen wie Englisch, Französisch usw. nun mehr Unterscheidungsmöglichkeiten bieten als das Deutsche. Der Horror besteht dann darin, von einer "primitiveren" Sprache, wie sie das "Schuldeutsche" nun einmal ist, in eine höher entwickelte Sprache zu übersetzen. Umgekehrt kann das wiederum einen Vorteil darstellen - des einen Tod ist des anderen Brot ... aber schade ist der Verlust von sprachlichen Feinheiten allemal (oder "alle Mal" wie deutsche Journalisten wohl schreiben würden).


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 12.06.2006 um 18.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4278

"Mir fällt gerade ein, daß ich (in Holstein) einmal die Wendung hörte: Ich habe bös davon. War verständlich, aber mir doch bis dahin fremd." kratzbaum, #4273
Welche Präposition bei Ausdrücken mit gleicher Bedeutung verwendet wird, hängt sehr oft vom lokalen Gebrauch, also von der Dialekttradition ab, — und auch der sog. Standard ist Gott sei Dank nicht geradezu das, was er einigen Sprechern zu sein vorgibt. Die von uns, die Englisch gelernt haben, wissen, der Ober "waits on", also bedient die Gäste. Aber in Amerika, wo 15 Prozent Trinkgeld ohne ausdrücklichen Hinweis üblich sind, gibt es große Gebiete, da erwarten einige, die da "are waiting on someone", kein Trinkgeld. Und warum nicht? Nun, "wait on someone" bedeutet da dasselbe wie "wait for someone" sonstwo. Und das ist ja auch zu erwarten, nicht wahr, ja, denn wir Deutsche warten ja auch *auf* jemanden! (Also, sage ich meinen Studenten, müssen wir immer die ganzen Ausdrücke der Zielsprache lernen, und dazu immer noch eine ganze Mnge mehr wissen. Zum Beispiel bedeutet "auf jemand*em* warten" nämlich schon wieder etwas ganz anderes. Ich sage ihnen auch, damit sie mal über so etwas nachdenken: "If my wife is fighting with me, I never know which side she's on" [bei welchem Ausdruck übrigens auch deutsch "mit" sein genaues Gegenteil bedeutet!], und dann lachen einige, — aber bei Gott nicht alle, welches ich, weil das ja Lebenserfahrung und verständnisvolles Mitleid ausdrücken könnte, auch respektieren muß.)



Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 12.06.2006 um 11.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4275

Lieber Germanist, "du hast *Recht"? Wohl nicht, und es kann deshalb auch nicht ungenau sein. "ein/dieses/kein/jedes Recht haben", ja. Aber mir hat noch niemand gesagt, daß ich "legal Recht hätte", immer nur, daß ich da auch legal recht hätte. Mir war das eindeutig genug. Offenbar garantiert uns unser deutscher Sprachgebrauch (jedenfalls soweit ich ihn kenne) selbst ein indefinites Recht nur mit indefinitem Artikel. Markners schwedisches "ha rätt" funktioniert da anders.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.06.2006 um 11.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4274

Ich gebe Professor Ickler recht. Und zwar klein. Es gibt genügend Proben und Hinweise, einige sind aufgezählt worden. Nur wenn man Professor Icklers Prämisse ignoriert, grammatisch falsche Schreibweisen nicht ins Wörterbuch aufzunehmen, wenn man also großzügig alles verzeichnet, was zu einem gewissen Anteil in professionellen Texten vorkommt, unabhängig davon, was grammatisch in Frage kommt, dann könnte man verzeichnen:

recht haben, auch Recht haben
aber nur so recht du hast, wie recht du hast

(Ich gehe davon aus, daß in professionellen Texten vor der Reform keine Großschreibung wie/so Recht du hast vorkam.)

Nur, wie sähe das denn aus? Es handelt sich doch um ein und denselben Begriff, ob mit oder ohne wie bzw. so im indirekten Fragesatz. Die Lächerlichkeit des Eintrags ist ein weiteres Plädoyer dafür, Recht haben als grammatisch falsch einzustufen, selbst wenn es einen Restbestand an Zweifelhaftigkeit geben mag.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 12.06.2006 um 10.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4273

Mir fällt gerade ein, daß ich (in Holstein) einmal die Wendung hörte: Ich habe bös davon. War verständlich, aber mir doch bis dahin fremd.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 12.06.2006 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4272

Die Diskussion dient auch der Klärung, wie man besser unterscheiden kann zwischen "deine Ansicht ist richtig" und "du bist in dieser Sache im Recht". Der Ausdruck "du hast recht/Recht" ist ungenau und in der gesprochenen Sprache nicht eindeutig genug.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 12.06.2006 um 09.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4271

Kratzbaum wies auf einen Umstand hin, der näher diskutiert werden könnte: Das Problem bei "recht haben" u.ä. liegt nicht im Bestandteil "recht", sondern im Verb. Verben wie "haben", "bekommen", "behalten" sind gewöhnlich transitiv, daher die Neigung, ein Objekt zu vermuten.

Daß diese Verben aber auch eine intransitive Seite bekommen haben, sieht man an Fügungen wie "frei haben", "frei bekommen". Für "behalten" fällt mir leider kein überzeugendes Beipiel ein, jedoch ist es mindestens für das Gegeteil klar, daß bei "unrecht behalten" keinerlei Art von Unrecht im Spiel sein muß.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.06.2006 um 07.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4270

Zunächst einmal sehe ich nicht ein, welchen Frieden unsere Diskussion stören könnte, es geht ja nicht ins Persönliche. Mancher Besucher könnte unsere Detailfreude ein bißchen verrückt finden, aber mit solchen Leuten reden wir sowieso nicht. Uns ist die Sprache interessant und teuer genug, in die letzten Einzelheiten zu gehen. Diskussion setzt Meinungsunterschiede voraus, und am Ende wird günstigenfalls einer recht behalten (ich natürlich!).
Dies vorausgeschickt, möchte ich Herrn Jochems erst einmal entgegnen, daß ich meine Bindebögen keineswegs aufzugeben gedenke. Man kann natürlich die Notation ändern, aber die Sache sollte bleiben, d. h. die "Freigabe" aufgrund empirischer Ermittlung tatsächlich bestehender Varianz, d.h. noch im Fluß befindlicher Zusammenschreibung. Nicht einmal zu einer Empfehlung reicht es meistens, und selbst dann bestünde die Gefahr, daß die Empfehlung wieder als "allein richtig" verstanden würde. Dann lieber Bindebögen. Eindeutigkeit braucht nur das Rechtschreibprogramm.
Mit "recht haben" verhält es – abgesehen von den unwiderlegten Begründungen wg. "ganz recht haben" und "wie recht du hast" – sich ungefähr wie mit einfachen intensivierbaren Verben. Man kann sehr lachen, aber nicht sehr schlafen, und man kann sehr recht haben, aber nicht Recht sehr haben.


Kommentar von GL, verfaßt am 12.06.2006 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4269

In der Regel hat eine Sekretärin oder Sachbearbeiterin keine Zeit, über die Rechtschreibung (z.B. schreibe ich nun recht oder Recht?) nachzudenken. Vor der RSR wusste diese in der Regel, mit Wörter wie recht, Recht, rechten, rechtlich, rechtmässig, rechtfertigen, rechtschaffen und auch rechtswidrig korrekt umzugehen.

Verfolgt eine solche nun die Kommentare, wird sie (ohne wissenschaftlichen Hintergrund) zu keinem Zeitpunkt schlauer! Sicher kann mir jemand erklären, wann eine solche nun recht oder Recht zu schreiben hat, ohne dabei in zu viel Wissenschaft abzugleiten!


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 12.06.2006 um 02.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4267

Das klein geschriebene "recht" steht unserem modernen "richtig" sehr nahe (engl. right [adj.] = agreeable, correct [Christkindlein sprach: So ist es recht.]). Das großgeschriebene "Recht" hat mit "Gesetz/Gerechtigkeit" zu tun (engl. right [Substantiv] = law, legality,)

Zu Norbert Schäblers sehr guter Frage "Sollte man dann 'rechtbehalten, rechthaben und rechtbekommen' nicht auch zusammenschreiben (zusammen schreiben) dürfen[...]?"
Ich erinnere mich (in Grammatiken der deutschen Sprache für Ausländer) an eine "Liste" der "trennbaren Präfixe" ("zurück" in "zurückkommen" ist z. B. auf dieser Liste). Was nicht auf der Liste (aus meist Präpositionen oder Adverbien) steht, ist dann offenbar kein trennbares Präfix. Und tatsächlich fährt man damit ganz gut, solange man nicht radfahren muß. Und beim zweiten Wort oben in diesem Beitrag habe ich, der ich mich meist nach Gefühl (allerdings durchaus mit einigem Sachwissen) entscheide, doch länger gezögert. Denn einfach was zusammenschreiben wollte ich ja nicht. Und todreden möchte ich dieses Thema auch nicht. Auf jeden Fall könnte man in so manchem Falle auch als einzelner zusammen schreiben, was nach so mancher Regel zusammengeschrieben eigenartig aussähe. Hier hilft nicht die noch so kompliziert formulierte Regel, sondern das Mitgefühl für den Leser und die Erinnerung daran, wie andere, die gut schreiben, dieses Problem gelöst haben. Ich jedenfalls will bei einigen Grenzfragen hier gar nicht recht behalten. Aber "zusammen schreiben" lese ich sofort anders als "zusammenschreiben".

Zu Markners "Im Schwedischen kann ha rätt sowohl recht haben als auch das Recht haben bedeuten. Interessant, aber was folgt daraus?" Daraus folgt, daß die so oft angepriesene "Artikelprobe" eben nicht zu alleinseligmachenden Schlüssen führt. Die armen Japaner, die Deutsch lernen. Bei denen gibt's nun mal keine Artikel. Und auch bei uns "bestimmt" ja der Artikel gar nicht soviel, wie ihm manchmal nachgesagt wird (Die Liebe ist eine Himmelsmacht. / Ja, Liebe ist nicht so einfach. / Was für eine Liebe!).


Kommentar von R. M., verfaßt am 12.06.2006 um 01.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4265

Was mit diesen Vergleichen erwiesen werden soll, erschließt sich mir nicht; im Englischen gibt es nun einmal nur to have the right, aber nicht to have right. Im Schwedischen kann ha rätt sowohl recht haben als auch das Recht haben bedeuten. Interessant, aber was folgt daraus?


Kommentar von H. J., verfaßt am 11.06.2006 um 23.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4263

Im Englischen hält man sich an Harrap's praktisches Wörterbuch:
recht haben: to be right
recht behalten: to turn out to be right
ich muß dir recht geben: I am forced to admit that you are right

oder an Langenscheidts Handwörterbuch:
recht haben: to be right
recht behalten: to be right in the end
jemandem recht geben: to agree with a person



Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 11.06.2006 um 23.13 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4259

Frage:

Sollte man dann "rechtbehalten, rechthaben und rechtbekommen" nicht auch zusammenschreiben (zusammen schreiben) dürfen, sobald der Rechtsverweser ausgeschaltet ist?


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.06.2006 um 23.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4258

Noch ein Internet-Wörterbuch: Auf http://dict.tu-chemnitz.de erfährt man, daß „recht geben“ in einer Reihe mit „bekräftigen; bestätigen“ steht und mit „to bear out“ übersetzt werden kann. Leider sind „recht behalten“ und „recht bekommen“ nicht verzeichnet.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.06.2006 um 22.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4257

Das LEO-Wörterbuch führt sich selbst ad absurdum: Als Übersetzung für „Recht behalten“ wird „to be proved correct“ angegeben – und das paßt überhaupt nicht zu einem substantivischen Recht. Das gilt auch für Kratzbaums hausmeisterphilosophische Entsprechung von „Recht haben“, die sich dort findet: „to be correct“. So ist es.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 11.06.2006 um 22.17 Uhr   Mail an
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Nachtrag an die Generalität

Es dürfte niemandem entgangen sein, daß ich mit meinen zurückliegenden Äußerungen für Liberalisierung eingetreten bin. Ebenso dürfte es klar sein, daß ich mich immer für die bessere Form der Ausdrucksmöglichkeit entscheide. Sich für etwas entscheiden, heißt aber nicht (insbesondere für mich), das andere zu verunglimpfen. Das andere mag neben meiner Einschätzung weiterhin bestehen, hat aber kaum das Recht, meine Entscheidung zu domestizieren. Einfaches „recht“ ist über „das Recht“ doch in vielen Fällen unglaublich erhaben. „Recht“ entspringt einem fehlbaren Richterspruch. Mein „recht“ ist tugendhaft, praxisbezogen und intuitiv. Aber es gibt zu viele streitbare und streitfähige Juristen (daneben andere akademische und halbakademische Grade). Deshalb gibt es zu viel Recht.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 11.06.2006 um 22.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4255

Die Zweifel kommen daher, daß man mit "haben" gewohnheitsmäßig einfach ein Substantiv verbinden möchte. Haben plus Adverb geht uns Heutigen einfach gegen den Strich. Wir setzen haben im stillen immer mit besitzen gleich.


Kommentar von borella, verfaßt am 11.06.2006 um 21.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4254

@ Kai Lindner
Typisch frägt man bei Adjektiven mit "wie" und bei Substantiven mit "was".
Auf recht/Recht angewendet bedeutet das:
Wem das Sprachgefühl bedeutet, wie habe ich? ich habe recht, der soll es klein schreiben.
Wem das Sprachgefühl bedeutet, was habe ich? ich habe (ein) Recht, der soll es groß schreiben.
Bei der was-Frage ist üblicherweise irgendwo ein Artikel mit im Spiel, wenn er nicht vorkommt, dann ist er möglicherweise "verblaßt" oder er schwingt noch irgendwo mit (ich maße mir hier - als Laie - die Ausdrucksweise der Gelehrten an)...


Kommentar von rrbth, verfaßt am 11.06.2006 um 21.11 Uhr   Mail an
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Nun, ich schau gerne bei LEO nach, auch wenn die inzwischen nur noch „Recht“ haben, behalten usw. kennen. Möglicherweise funktioniert aber dieser Link nicht, und man muß über die Startseite gehen.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 11.06.2006 um 20.39 Uhr   Mail an
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Lieber Herr Jochems!

Ich glaube nicht, daß Frieden eine Sache sein kann, die zwischen Generälen ausgehandelt wird. Und wenn schon, dann sind Sie als Hochdekorierter einem einfachen Soldaten eine Erklärung schuldig. Im Todesfalle zumindest eine Beileidsbekundung!


Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.06.2006 um 19.57 Uhr  
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Für mein Gefühl kommt das englische "you are right" dem deutschen "du hast recht" am nächsten. Falls jemand ein ganz dickes Englischlexikon hat: Was heißt auf Englisch "recht bekommen, behalten, geben"?


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 11.06.2006 um 19.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4250

Lieber Herr Lindner, rechthaben bedeutet ja gerade nicht, daß man irgendein (wömöglich geetzlich verbrieftes) Recht hat, das man durchsetzen könnte. Ich sage es mal hausmeisterphilosphisch: Rechthaben ist kein Haben, sondern ein Sein. Aber Sie kennen doch bestimmt selbst die Bedeutung des Ausdrucks und bedürfen keiner Belehrung. Über die im Einzelfall anzuwendende Schreibweise kann es doch gar keinen Zweifel geben, da hilft das Sprachgefühl und eventuell die Artikelprobe bzw. Adjektiv/Adverb-Zusatzprobe nach Prof. Ickler. – Aus diesem Beispiel und den Diskussionen darum habe ich gelernt, daß die Frage nach der Wortart nicht in jedem Fall für die richtige Schreibung hilfreich ist. Man sollte die Zuordnung gar nicht so wichtig nehmen. Was sind schon Wortarten?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 11.06.2006 um 15.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4249

Lieber Herr Ickler, wir wollen den webseitlichen Frieden nicht wegen eines Randphänomens gefährden. Was halten Sie von folgendem Vorschlag: In einer endgültigen Ausgabe Ihres Wörterbuchs müssen Sie so oder so aus Gründen der einfacheren Benutzbarkeit die jetzigen Bindebögen bei den Verbzusatzkonstruktionen aufgeben und jeweils eine Schreibweise empfehlen. Da die andere aber nicht ausgeschlossen sein soll, werden Sie vermutlich weniger empfehlenswert davorsetzen. Das würde sich bei den Verbindungen mit Partizipien wiederholen, warum also nicht auch "recht (haben, erhalten, behalten, geben), weniger empfehlenswert Recht (haben, ...)"? Bei "radfahren"/"Rad fahren" würden Sie ja ebenso verfahren, vielleicht auch noch in einigen anderen Fällen. Wo beide Schreibungen gleich üblich sind, würde natürlich auch vor der zweiten stehen.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 11.06.2006 um 14.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4248

Unzweifelhaft

Für mich ist das komisch, daß hier stets über Zweifelsfälle geredet wird, denn ich selbst verspüre den Zweifel nicht. Zwar sind mir die meisten der zahlreichen Alternativen bekannt, zwischen denen ich frei entscheiden könnte, doch kann mich kaum eine dieser Ersatzmöglichkeiten betören. Von den Alternativen gehen weder Reiz noch Verlockung aus. Warum sollte ich auch in Versuchung geraten, von der anerkannt besten auf die allenfalls zweitbeste Rechtschreibung umzustellen?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2006 um 12.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4246

Also nun doch noch einmal der gute alte Konrad Duden (1876):

"Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; man erkennt die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat."

Das läßt sich doch wohl hören, und es gibt eben auch noch andere Gründe, die Desubstantivierung von "recht" in diesen Verbindungen für ziemlich abgeschlossen zu halten.

Ich habe nicht sprachgeschichtliche Kenntnisse von den Studenten erwartet, lieber Herr Jochems, sondern die Methode der Frage nach Wortarten (im heutigen Deutsch, wohlgemerkt) in Frage gestellt. Und natürlich interessiert mich die wirkliche Schreibpraxis der Leute mehr als ihre Meinung darüber. Bekanntlich sprechen die Menschen ja auch anders, als sie zu sprechen behaupten, wenn sie danach gefragt werden. Zum Beispiel verleugnen viele die Auslautverhärtung, obwohl sie nie anders sprechen als auslautverhärtend.

In der Zeitung habe ich groß geschriebenes "Recht haben" immer wieder mal gefunden, aber nicht so oft, daß ich es eigens ins Wörterbuch aufnehmen zu müssen glaubte (was ja nicht ohne eine Warnung vor den grammatisch falschen Verbindungen möglich gewesen wäre). Inzwischen habe ich noch einmal die Süddeutsche Zeitung von 1995 wenigstens teilweise durchgesehen. Die Vorkommen sind nicht der Rede wert.

Studentische Texte – um auch das noch zu sagen – sind heute leider oft sehr schlampig abgefaßt. Die Zeichensetzung zum Beispiel kann man meistens vergessen. Daher gehören solche Texte grundsätzlich nicht zu meinem Material, sondern nur veröffentlichte, mehr oder weniger durchredigierte, professionelle. Voraussetzung war, daß sie eben gerade nicht den Duden widerspiegelten.

Übrigens bestreite ich entschieden, daß die Kleinschreibung in "du hast ganz recht" kontraintuitiv und nur stur gelernt sei. Die Intuition der Sprachgemeinschaft hat sich gerade andersherum entwickelt, und so kam es zur Kleinschreibung. Es sollte mich doch sehr wundern, wenn die Studenten von Herrn Jochems "du hast ganz Recht" schrieben ...

Die Sache mit dem "ergötzen", lieber Herr Lindner, sollte nur den methodischen Fehler illustrieren.

Nachtrag: Es wundert mich, daß Herr Jochems die Wendung "wie recht du hast" erst hier kennengelernt haben will. Vielleicht eine dialektbedingte Eigentümlichkeit? Ich kann das bei den zigtausend Belegen, die Google ausspuckt, aber nicht erkennen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 11.06.2006 um 11.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4244

Meine Frage an Professor Ickler bestand aus zwei Teilen. Ich wollte wissen, ob in seinem Corpus "üblicher" Journalistenschreibungen "Recht haben" vorkommt, und falls ja, warum er dies nicht als Variante aufführt, während doch Gerhard Augsts "fertig stellen" vor 1996 in der gehobenen Publizistik belegt zu sein scheint und entsprechend als zulässige Variante in Normale deutsche Rechtschreibung gelangt ist. Es geht mir ja nicht um eine Empfehlung für "Recht haben", sondern nur um die Anerkennung der Tatsache, daß Frau Gütherts Redaktionskommission hier wenigstens die übliche Praxis richtig beschreibt. Studenten im Hauptseminar stehen doch wohl eher auf der Seite der gebildeten Sprachbenutzer, und was sie als ihre Schreibgewohnheit angeben, sollte die empirische Rechtschreibforschung ernst nehmen. Daß damit nicht die Fähigkeit verbunden sein muß, über sprachgeschichtliche Fragen Auskunft zu geben, versteht sich von selbst. Wer unter den Lesern dieses Beitrags vermag wohl auf Anhieb zu sagen, was sich hinter "Ereignis" verbirgt? Wenn gebildete Schreiber sich mit der Regelung abfinden, kontraintuitiv "recht haben" klein zu schreiben, muß es doch wohl gestattet sein, nach der Entstehung dieser inzwischen zur Gepflogenheit gewordenen Anomalie zu fragen. "Wie recht du hast" habe ich erst auf dieser Webseite kennengelernt. Für "recht bekommen", "recht behalten" und "recht geben" funktioniert der entsprechende Probekontext ohnehin nicht. Wörter und Wendungen (Leipzig, 1981) führt die phraseologischen Belege für "Recht" und "recht" getrennt auf, stellt unsere hier diskutierten Fälle aber zu "Recht"! Das Stilwörterbuch der deutschen Sprache der Mannheimer Dudenredaktion (1963, hier zitiert nach der 5. Aufl. o. J.) stellt unsere Fälle zwar zu "recht", fügt aber hinzu: verblaßtes Subst. Über Adelungs "Recht haben" und den Schreibbrauch im 19. Jahrhundert wurde auf "Schrift und Rede" im vorigen Jahr ausführlich diskutiert. Wir alle haben in diesen zehn Jahren gelernt, daß eine Schreibung "echt" falsch ist, wenn sie gegen die Grammatik verstößt. Was aber nur "weniger üblich" ist und für viele Schreiber nicht einmal der Intuition widerspricht, ist milder zu behandeln. Selbst die Kultusminister bestehen nicht darauf, daß jeder schreiben müsse wie Gerhard Augst (oder Frau Güthert). Nun sollten wir nicht sagen, zwar brauche niemand so zu schreiben, wie es im Ickler steht, aber davon abzuweichen sei nun doch ein starkes Stück.


Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 11.06.2006 um 11.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4243

Ich finde es schon merkwürdig... anscheinend ist jedem im Forum klar, warum in "recht haben" das "recht" unbedingt kleingeschrieben werden *muß*. Mir ist es hingegen nicht klar; ich schreibe es klein, weil es gemäß der klassischen Rechtschreibung eben klein geschrieben wird – es ist eine Regel die ich befolge und nicht groß hinterfrage. Dieses ist jetzt keine Aufforderung an das Forum, mir eine Erklärung zu geben, damit aus einem Befehlsempfänger ein Befehlsversteher wird – dazu werde ich irgendwann noch einmal in meinem Grammatik-Duden unter "adverbialer Gebrauch" nachschlagen.

Aber... Ich sehe mich selbst als gehobenen Sprachanwender (mit strenger Betonung auf "Anwender") – doch wenn ich mir meine Grammatik auf Basis meines gymnasialen Schulwissens selbst zusammenreimen müßte, dann wäre ich mir nicht so sicher, ob "recht" wirklich kleingeschrieben werden muß/sollte. Wie ich schon einmal schrieb, haben "recht haben" und "Schnupfen haben" für mich sehr viele Ähnlichkeiten (@borella: Ich kann mir "das Recht", das ich habe, durchaus konkret handgreiflich [durchsetzbar] vorstellen ;-).

Wenn Kratzbaum schreibt, er würde niemals "Ich habe Recht" schreiben. Liegt das an seinem grammatischen Verständnis der Sache... oder an seinem aus Leseerfahrung geprägten "Sprachgefühl"? Wenn man sein Leben lang aber "Ich habe Recht" gelesen hat, dann wäre das Sprachgefühl auch anders geprägt. Hierin liegt meines Erachtens auch ein großes Problem der Reform – die junge Generation (vielleicht sogar wir alle) wird "Bewährt" und "Neu" viele Jahrzehnte lang nebeneinander erleben, und kann daraus kein einheitliches Sprachgefühl mehr entwickeln... aber das ist ein anderes Thema.

Was mich ganz allgemein betrübt, das ist das doch sehr ausgeprägt vorhandene "Experten-Dilemma". Je mehr ein Experte von seinem Fachgebiet versteht, desto unverständlicher ist ihm das Nicht-Verstehen der Nicht-Experten. Man muß einmal ganz deutlich erkennen, daß es bei der Rechtschreibreform nicht nur um korrekte Grammatik geht. Es geht auch darum, wie man den Nicht-Experten (den 99,9% der einfachen Sprachanwender) das Ganze verkauft. Dazu muß man sich als Experte auch einmal auf das Niveau des normalen oder einfachen Anwenders herabdenken können.
Solche Punkte wie Gams — Gemse... warum nicht Gams — Gämse? Das ist allen Etymologeleien zum Trotz doch eine konsequente Änderung, die man mögen kann oder auch nicht. Thematisiert man solche Dinge aber als "wirklich wichtig" in der Öffentlichkeit (und so etwas ist ja [leider] oft genug geschehen), dann – das muß ich mal so offen sagen – macht man sich lächerlich. Der Nicht-Experte versteht den Sinn dieser Diskussion nicht mehr und hält den Gemse-Anhänger für verbohrt und ganz prinzipiell gegen die Reform eingestellt (womit er wohl nicht falschliegen dürfte; was aber in einer "Konsens-Gesellschaft" ein schlechtes Etikett ist).

Letztlich noch: Gott — Götze — Ergötzen? Soll doch Herr Augst schreiben, was er will. Solange im Kluge steht, wovon sich ergötzen ableitet, ist das doch unwichtig... es zeigt eben nur Schwarz-auf-Weiß: Nicht alle Experten sind auch welche ;-)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2006 um 06.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4238

Wenn man Studenten fragt, welcher Wortart der Verbzusatz in "recht haben" angehört, werden sie wahrscheinlich zu einem großen Teil auf Substantiv tippen – was sollten sie sonst sagen? Der VZ ist eben noch weitgehend unverstanden, auch von Grammatikern. Die Befragung verfälscht den Gegenstand. Man darf nicht denselben Fehler machen wie Augst, der in seinem Wortfamilienwörterbuch zu Ergebnissen kommt wie dem, daß seine Informanten „ergötzen“ mit „Götze“ in Verbindung bringen, weshalb Augst es dann auch unter „Gott“ einordnet. Was hätten sie sonst antworten sollen, wenn man ihnen denn schon eine Etymologie zu einem Wort abfordert, über das sie bisher noch gar nicht nachgedacht haben?

Der adverbiale Gebrauch des Adjektivs "recht" ist in meinem Wörterbuch nicht eigens vermerkt, das stimmt. Vielleicht könnte ich es nachtragen, aber nötig ist es aus rechtschreiblicher Sicht wohl nicht.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 10.06.2006 um 14.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4231

Umwege

Wer schon bisher gegelaubt und gehofft hatte, daß die Refom von innen her absterben werde und müsse, sieht sich jetzt bestätigt. Die zunächst vielgeschmähten Varianten erweisen sich plötzlich als ganz unverfänglicher und geradezu eleganter Rückweg zur herkömmlichen Orthographie. Also: Einfach noch mehr Varianten zulassen - und alle sind zufrieden.


Kommentar von borella, verfaßt am 10.06.2006 um 10.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4228

Die ist recht verflixt - diese Sache mit dem Recht

Das Sprachgefühl sagt, daß immer dann groß geschrieben wird, wenn es sich um ein konkret vorstellbares Recht handelt, das in Anspruch genommen werden könnte, ansonsten wird klein geschrieben.

Das einzige recht, das ich auch im Ickler (4) nicht finde, ist das erste in meiner Überschrift.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 10.06.2006 um 10.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4227

Was mich betrifft oder Meine Sorgen möcht´ ich haben!

Ich werde niemals schreiben: Ich habe Recht. Ob da noch Anklänge an ein ehemaliges Substantiv mitschwingen, ist mir für meinen Sprachgebrauch hier und heute völlig egal. Mit genügt die bedeutungsunterscheidende Funktion gegenüber: Ich habe das Recht. Ich werde aber auch nicht sagen und schreiben: Ich habe kalt, was z.B. im Schweizerdeutschen üblich und richtig ist. Das Sprachgefühl ist der Motor der orthographischen Entwicklung, des Fortschritts, wenn man so will. Die theoretische Begründung folgt immer hintendrein. Hat je ein Rückgriff auf ältere Formen zu einer dauerhaft etablierten geänderten Schreibweise in der Gegenwart geführt? Das würde mich mal interessieren (vorrefomiert natürlich). Der unerschrockene Herr Wegner behauptet, jemandem seine Sorgen zu nehmen, heiße ihn entsorgen. Da will ich die meinen doch lieber behalten.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2006 um 08.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4226

Nachdem die Reformer sich in einem ihrer Berichte auf die französische Scheinparallele "avoir raison" berufen hatten (um nicht auf die grammatischen Argumente gegen die deutsche Reformschreibung eingehen zu müssen), war der ganze Komplex hier schon ausgiebig diskutiert worden (avoir peur usw.). Ähnliche Gesichtspunkte haben nun einige Mitdiskutanten hier nochmals in Erinnerung gerufen.
Wir sehen dem "recht haben" noch an, wo es herkommt, und wenn jemand meint, die Desubstantivierung sei zwar in einigen Konstruktionen ("wie recht du hast"), aber nicht in allen ("du hast Recht") abgeschlossen, dann soll er es in Gottes Namen bei solchen Gelegenheiten groß schreiben. Daß Konrad Duden an der bis zum Überdruß von mir angeführten Stelle aus seiner Schrift von 1876 schon nichts mehr von Substantiv erkennen wollte, kann man auch auf sich beruhen lassen.
Was könnte in "schlichteren Texten" überhaupt als "falsch" angesehen werden? Ich habe mich nach Sichtung der Belege und Abwägung der Folgen dafür entschieden, die veraltete Großschreibung gar nicht mehr anzuführen. Mein Wörterbuch ist ein Vorschlag zum üblichen und sprachrichtigen Schreiben, mehr nicht. Die Korrekturpraxis der Lehrer habe ich immer auf díe gleiche Stufe gestellt wie das Korrigieren von Wortwahl und Grammatik. Es sind immer Grenzfälle möglich, wo der kompetente Lehrer selbst urteilen mag.
Übrigens wird hier selten erwähnt, daß es für die Grundschule in allen Bundesländern besondere Rechtschreibwortschätze gibt, und an den Schulheften der Kinder sehen wir ja, daß viele Rechtschreibfehler angestrichen, aber nicht gewertet werden. "Gestufte Obligatorik", das ist schon richtig. Aber natürlich nicht für mein Wörterbuch.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 10.06.2006 um 00.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4225

Was ist ein Fetisch?

Ich persönlich kann inzwischen nicht mehr einschätzen, welches Maß an Ehrverletzung und Fetischismus in meinem Kampf gegen die Neuverordnung eine Rolle spielt, doch ist es mir zwischenzeitlich egal, wie mein fachliches Arbeiten eingeschätzt wird, ob jemand z.B. Beharrungstendenz oder Altersstarrheit in meinem Wirken ausmacht. Auch ist mir egal, wieviele, in welchem Ausmaß, welche, wodurch und durch wen oder was auch immer motivierte Neuregel befolgen.
Mein Fundament an Selbstsicherheit besteht aus Gründlichkeit, Wissen und Routine. Gegen diese professionellen handwerklichen und wertschöpfenden Tugenden kann im Regelfall nichts eingewendet werden. Allenfalls kann man hier eine Kosten-Nutzen-Rechnung dagegenhalten. Man kommt auch billiger zu einem Arbeitsergebnis.

Meine persönliche Erklärung: Nichts und abernichts habe ich gegen Hobbyhandwerker. Ich empfinde sie niemals als Konkurrenz. Sie sollen ihre Arbeitserfolge feiern und aufwerten, und ich werde als Fachmann deren Arbeitsergebnisse im Verhältnis zu den eingesetzten Hilfsmitteln zu würdigen und zu respektieren wissen.

Nur möge mir niemals ein Hobbyist sagen, er hätte ein besseres Ergebnis zustandegebracht als ich, der ich über die besseren Hilfsmittel und über den größeren handwerklichen Idealismus verfüge. Zu solcherart Demut bin ich nicht fähig.
Und in alle Ewigkeit werde ich mich nicht vor einem Hut verbeugen, unter dem kein Kopf, sondern nur ein Stängel steckt.
Letztlich will ich eines ganz deutlich sagen: „Nicht etwa mein Verhalten, sondern der "Stängel" bzw. der "Gesslerhut" sind der Fetisch!“


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 10.06.2006 um 00.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4224

"Ebi Smolarek mit gestrecktem Bein gegen Edwin Tenorio, dafür gibt es zurecht Gelb."
"Wiederum strahlten die anderen Drei der Viererkette Unsicherheiten aus und besonders Arne Friedrich sah ein ums andere Mal gar nicht gut aus."
dpainfocom "WM 2006 Live-Ticker"(9.6.)

Wenn ich so etwas lese, bin ich dafür, daß wir alle alten Schreibweisen bevorzugen und die Journalisten, ohne die die Rechtschreibreform nie in Gang gekommen wäre, geradezu darauf verpflichten, schon der armen von den KultusministerInnen immer wieder öffentlich ach so beweinten Kinder in den Schulen wegen, aber auch wegen des Eindrucks, den wir alle mit so etwas in der internationalen Öffentlichkeit machen. Dann könnten wir in Ruhe die ungelösten Rechtschreibfragen studieren und diskutieren, die uns auf den Nägeln brennen, weil bei ihnen die herkömmliche Orthographie wirklich zu kompliziert ist.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 09.06.2006 um 22.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4223

Lieber Herr Professor Jochems, Sie haben jetzt zwar einiges getan, "den Erfordernissen der Wissensgesellschaft folgend" uns an Ihren Fachkenntnissen teilhaben zu lassen, dabei jedoch offensichtlich die Einrede von Herrn Wagner vom 8. 6., 22.03 Uhr, übersehen. Wenn – das ist Ihre Prämisse – die herkömmliche Orthographie zu kompliziert ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ändert die Norm oder den Umgang mit ihr. Den ersten Weg sind die Reformer gegangen und damit gescheitert. Den zweiten Weg hat Herr Wagner in Erinnerung gebracht. Es ist sicherlich unsinnig, einen Hauptschüler sanktionsbewehrt darauf verpflichten zu wollen, "Respekt" anders als "Wespe" zu trennen. Von einem Gymnasiasten darf man das jedoch nicht nur, sondern muß es auch erwarten.

Falls die sich hier anbietende und, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, auch von Ihnen als Ausweg aus dem gemutmaßten "Rechtschreibdilemma" empfohlene "gestufte Obligatorik" eine Lösung mit Hand und Fuß ist, stellt sich die Frage, wozu man dann noch eine "echte Rechtschreibreform" braucht. Das sollten Sie, finde ich, noch etwas näher begründen; diesmal bitte ohne Hinweise auf die Quisquilien des alten Dudens.


Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 09.06.2006 um 22.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4222

Lieber Herr Wagner, Ihre Beispiele sind sehr nett... aber sie sind gleichzeitig auch konstruiert und vielleicht sogar ein wenig spitzfindig (was nicht unbedingt abwertend gemeint ist).

Sprache lebt von Redundanz... und aus dem Kontext erschließt sich zumeist, was gemeint ist. So ist das zumindest bei der GKS... nicht aber unbedingt bei der GZS (was jetzt meine persönliche Meinung oder besser "Leseerfahrung" ist).
Würde einem ein Satz vorgelesen werden... gäbe es bei großgeschriebenen Worten eine andere Betonung und damit ein anderes Verständnis des Satzzusammenhangs? Werden vielleicht alle besonders betonten Worte großgeschrieben? Nein... leider nicht, denn dann hätten wir nicht so große Probleme mit der GKS. Die Redundanz rettet uns aber das Verständnis. Bei der GZS würde könnte sich aber durchaus eine andere Betonung ergeben. Oder aber, der Vorlesende übergeht die Trennungen/Pausen in den zerrissenen Worten.

Als jemand [warum klein... ich könnte ja auch "jemand" durch "Mensch" ersetzen... ein Jemand --- ein Mensch... aber: jemand --- Mensch... ?], der lieber weniger als mehr betonierte Rechtschreibregeln hat (und zudem einen erheblichen Anteil seiner Grammatikgehirnleistung für Fragen der GKS verwendet ;-), würde ich mir hier viel mehr "gestalterische" Freiheit wünschen. Sobald es aber eine Regel gibt, muß man sie auch anwenden, um der Norm entsprechend zu schreiben. Denn, wenn es nicht gerade um experimentelle Lyrik handelt, will man sich vor dem (vermeintlich grammatisch fähigeren) Lesenden ja nicht blamieren. Was wiederum so typisch deutsch ist...

Ein paar Worte zu Ihrem ersten Beispiel: Wenn man den kürzeren zieht, dann zieht man sprichwörtlich den kürzeren Halm. Der Halm fällt unter den Tisch... warum schreibt man "den kürzeren" dann also klein, wenn der "kürzere" den "Halm" ersetzt -- weil es nur im übertragenen Sinne der kürzere ist? Nein... es gäbe also einen guten, logischen Grund, warum man den kürzeren groß schreiben können sollte. Und schreibt man in Ihrem Beispiel dann doch "den Kürzeren" (nach bewährter Schreibung), dann fällt ja auch unter den Tisch, was kürzer ist. Was es ist, das denken wir uns und schmunzeln... denn es ist ja ein Witz.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 09.06.2006 um 21.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4220

Lieber Herr Lindner, die GKS hat es inhaltlich in sich und kann deshalb massiv beim Lesen stören – wenn man jeweils an das denkt, was ein Substantiv ausdrückt. Weil er so schön ist, dazu hier noch mal mein orthographischer Lieblingswitz: Trifft der Student seinen Professor am Pissoir. „Hallo Professor, endlich kann ich mir Ihnen gegenüber auch mal was herausnehmen!“ „Tja, wie ich Sie kenne, Müller, werden Sie auch hier wieder den kürzeren ziehen!“ Ob der Professor bei Großschreibung wegen Sexismus drangewesen wäre? Wenn ja, wird er sich diese Bemerkung in Zeiten der Reform verkneifen müssen, denn die läßt hier, soweit ich weiß, nur noch Großschreibung zu.

Aber auch andere Beispiele erhellen die Seltsamkeit falscher Substantivierungen. Man denke einfach bei einer Substantivierung, so weit es geht, an etwas Substantielles, und schon wirkt manche Neuschreibung einfach nur noch blödsinnig, manchmal aber auch unfreiwillig komisch. Nehemen wir einfach mal des Weiteren, das es neuschrieblich ebenfalls nur groß geschrieben gilt. Was wäre dagegen eine echte Substantivierung von weiter? Ein konstruiertes Beispiel: Sagt ein kopulenter Kunde zum Verkäufer, der bereits mehrmals ein gehen mußte, etwas anderes zu holen: „Dieses Sakko sitzt zwar schon besser, aber es paßt auch nicht richtig. Haben Sie nicht etwas noch Weiteres da?“

Oder nehmen wir im Folgenden: Beim Paartanz gibt es üblicherweise einen, der führt, und einen, der sich führen läßt; man kann auch sagen, daß er der Führung folgt. Wenn nun nicht durchgängig eine Dame und ein Herr miteinadner tanzen, kann sich derjenige, der die Schritte erklären will, auf die Rollenverteilung beim Führen beziehen und jeweils die Schritte für den Führenden und den Folgenden erläutern. Wenn dann beim Üben der Führende immer wieder Mist baut, wird sich im Folgenden irgendwann Unmut regen.

Oder ein konkretes Beispiel (http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=48#390): »Spätestens als der CSU-Chef Anfang der Woche seinen Rückzug aus dem Kabinett Merkel erklärt hatte, als der Super-Wirtschafts-Europa-Raumfahrtminister in Berlin beleidigt hinwarf, wandten sich auch die treuesten Gefolgsleute von ihm ab. Die Ersten begannen den mächtigen Parteiführer in Frage zu stellen, ganz leise anfangs und anonym.« (Der Spiegel 45/2005, Seite 48) Was lernen wir daraus? Trau keinem Ersten!

Und so weiter – wie gesagt, man stelle sich bei reformiert groß geschriebenen Wörtern möglichst etwas Konkretes darunter vor, und schon ...

K. Lindner: »"Du hast recht/Recht" (recht/Recht haben) [...] -- mal klein, mal groß ?!«

Das ist in der Tat der Stand der Reform 2006: Beide Schreibungen sind zugelassen – aber eben nur in diesem Fall, nicht auch bei „Schnupfen haben“.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 09.06.2006 um 19.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4219

Alle Argumente, die auf die unnötigen Spitzfindigkeiten im vorreformatorischen Duden hinweisen, können nicht begründen, warum eine Totalreform der Rechtschreibung notwendig war. (Ich gehe auf die „Totalreform“ weiter unten ein und verfolge hier zunächst einen anderen Gedanken weiter.) Sie belegen lediglich die Notwendigkeit einer redaktionellen Überarbeitung („Auskämmen“), und sie geben Stoff ab für diejenigen, die für die Schulcurricula zuständig sind. Natürlich kann man diese Feinheiten der GKS und GZS, die Sie hier (#4201) schildern, lieber Herr Jochems, von keinem Schreibanfänger verlangen, daher wäre zu überlegen, was davon notenrelevant sein soll und was nicht. Ich erinnere an die Verhältnisse in Frankreich: In den „Tolérances grammaticales ou orthographiques“, Arrêté ministériel vom 28. 12. 1976, werden für französische Schüler Bereiche festgelegt, in denen Rechtschreibfehler in Prüfungen nicht als Fehler zu bewerten sind. Hätte man so etwas in Deutschland eingeführt, wäre die ganze Rechtschreibreform überflüssig gewesen.

Das weist auf einen weiteren wichtigen Punkt hin: Wer hat welche Hausaufgaben zu erledigen? Wir haben es ja mit zwei eigenständigen Bereichen zu tun: Für das, was im Duden steht, ist die Dudenredaktion zuständig, und für das, was in der Schule passiert, sind die Kultusministerien zuständig. An diesen Zuständigkeiten ändert sich auch nichts durch die KMK-Entscheidung vom November 1955, daß in der Schule der Duden allein maßgeblich sein soll. Wenn sich nun also im Duden einiges Revisionsbedürftige angesammelt hat, ist es ausschließlich Sache der Dudenredaktion, sich dessen anzunehmen. Wenn es Schwierigkeiten bei der schulischen Vermittlung der Rechtschreibung gibt (wobei es im Prinzip ganz egal ist, welches Wörterbuch zugrundegelegt wird), ist es allein Sache der KMK, das neu zu regeln – und nichts anderes. Die KMK hat also nicht in den Duden hineinzuregieren und die Dudenredaktion nicht in die Schule. Wenn das in der Vergangenheit aber trotzdem so gewesen sein sollte, ist jemand seinen Pflichten nicht nachgekommen, sich um das zu kümmern, wofür er zuständig ist – bzw. zu verhindern, daß andere das an seiner Stelle erledigen. In diesem Lichte betrachtet, mutet die Totalreform von 1996 einigermaßen befremdlich an.

Ich spreche hier bewußt von einer orthographischen Totalreform, auch wenn sich im Endeffekt nur in vergleichsweise wenigen Fällen (Größenordnung wenige bis knapp zehn Prozent) etwas geändert hat, denn die Neuregelung (= Paragraphen plus Wörterverzeichnis) beruht auf einer in mehreren grundsätzlichen Punkten geänderten Herangehensweise an die Rechtschreibung. Diese neue Herangehensweise wird m.E. durch folgende (grob angerissene) Punkte charakterisiert: (a) Schreiber- statt Leserperspektive; (b) präskriptiv statt deskriptiv; (c) Zielstellungen Vereinfachung, Erhöhung der Regelhaftigkeit, Anwendung formaler Kriterien; (d) s-Schreibung auf die Aussprache statt auf die Silbenstruktur bezogen geregelt. So etwas aufgrund der beschriebenen Eigenheiten des Duden ins Werk zu setzen, ist nicht gerechtfertigt.

Natürlich haben Sie recht, lieber Herr Jochems, wenn Sie einige Dudenspitzfindigkeiten für verzichtbar erklären; es sind gewiß welche darunter, bei denen die Wissensgesellschaft keinen Schaden nehmen wird, wenn man auf sie verzichtet. Sie wird es aber auch verkraften, wenn man das nicht tut und den Duden so läßt, wie er ist. Wer ist denn gezwungen, sich nach dem Duden zu richten? Auch die Schule ist es nach dem oben Gesagten letztlich nicht, denn für die Schule ist und bleibt die KMK maßgeblich; sie hat die Schule zur Dudenhörigkeit verdonnert, sie kann sie davon auch wieder erlösen (indem sie ihren Beschluß von 1955 aufhebt) – wenn sie denn merkt, daß der Duden für die Schule nicht zu gebrauchen ist. Fazit: Als Kritiker bzw. Gegner der Rechtschreibreform hat man kein Problem mit irgendeiner Auflage des Duden – man hat ein Problem mit der KMK.

Auch auf die Gefahr hin, polemisch zu wirken – in einem einzigen Punkt komme ich nicht umhin, Ihnen ein Gegenbeispiel zu präsentieren: »Differenzschreibungen gibt es auch auf der untersten Ebene, bei der graphischen Umsetzung von Phonemen, also "Seite" vs. "Saite", "Lerche" vs. "Lärche", "Wagenbauer" vs. "Waagenbauer" (seit 1928) usw. Daran hat niemand die Hand gelegt und wird es auch in Zukunft nicht tun.« (#4201)
Doch, das ist schon passiert: „gräulich“ hat „greulich“ ersetzt.


Kommentar von Bardioc, verfaßt am 09.06.2006 um 18.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4218

''Denn wofür "gehen" Studenten nicht alles "auf die Straße" (Ickler), statt in die Bibliothek zu gehen, um mal Sachen in ihrer Tiefe auszuloten!''

Wenn die allgemeinen Studiengebühren erst einaml eingeführt sind, wird den Studenten nur noch wenig Zeit bleiben, in die Bibliothek zu gehen, um mal Sachen in ihrer Tiefe auszuloten. Dann heißt es nämlich arbeiten, um Geld zu verdienen -- falls man nicht reiche Eltern hat.
(500 bis 1500 Euro pro Semester, dann kommen da noch die Rückmelde- und die Verwaltungsgebühr (zur Zeit insgesamt etwa 245 Euro) und eventuell eine Langzeitstudiengebühr von 500 bis 900 Euro hinzu. Bei Zweitstudium sind es 1500 Euro, der Master-Studiengang zählt als Zweitstudium. -- Ach ja, dann brauchen Studenten ja auch ncoh Bücher, Computer, müssen evtl. Miete zahlen und von etwas leben!


Jochems: ''Seit 1996 hat jedoch mancher jüngere Schreiber an der revidierten ss/ß-Regel Gefallen gefunden, so daß an dieser Stelle zumindest sich die Ausgangslage nochmals verändert hat.''

Nun ja, die Schüler haben so sehr Gefallen an dieser Regel gefunden, daß sie jetzt sogar mehr Fehler machen.

''Da die jetzigen Verwerfungen auf dem Wege über die Schule eingeführt wurden, müßte so auch die Bereinigung erfolgen. Dazu fehlt heute aber bei den Verantwortlichen die Bereitschaft. Man sollte also mit Geduld warten, bis sich das Fenster für eine echte Rechtschreibreform öffnet. In der Zwischenzeit wird keine kulturpolitische Katastrophe eintreten, und die Internetsuchmaschinen werden ebenfalls nicht an der uneinheitlichen Rechtschreibung verzweifeln. Die Erkenntnisse und Einsichten der letzten zehn Jahre sollten wir uns aber bewahren.''

Natürlich wird man die Reform zum großen Teil nur über die Schule ''bereinigen'' können. Wenn das, was jetzt läuft, keine ''echte'' Rechtschreibreform ist, dann graut mir vor dem, was Sie unter einer solchen verstehen. Hoffentlich öffnet sich dieses Fenster nie! Natürlich wird in der Zwischenzeit auch keine kulturpolitische Katastrophe eintreten, denn die hat der deutsche Michel ja schon.

''Soll aber "Recht haben" in schlichteren Texten wieder ein Fehler sein?''

Dann würden wir die Rechtschreibung von der intendierten Textsorte abhängig machen! -- Herr Jochems sortiert die Menschen offenbar in zwei Klassen, Eine Klasse enthält diejenigen, die seiner Meinung nach schlichte Texte verfassen -- diesen Leuten gilt seine ganze Hingabe, ihnen will er es einfacher machen, durch eine echte Rechtschreibreform --, und den Rest. Erstere will er durch eine auf sie zugeschnitten Schreibung in dem Zustand, nur schlichte Texte verfassen zu können, halten. Sie sollen sich nicht weiterentwickeln dürfen. Sie sollen von Anfang an nicht im Gebrauch des Präzisionsinstruments klassische Rechtschreibung unterrichtet werden. Zumindest könnte man seine Einträge so verstehen.
-- Aber, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. So werden diese Unterschiede zementiert! Das sollte doch nicht das Ziel einer modernen Gesellschaft sein!



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.06.2006 um 18.29 Uhr  
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Wieder zeigt es sich, daß kaum jemand den Ickler aufschlägt. Dort steht sub voce - wie man in meinen aktiven Jahren so schön zu sagen pflegte - "recht tun, recht bekommen, recht geben, recht behalten, nicht recht haben". Dann aber: "sein Recht bekommen, kein Recht haben usw." (was tk übersehen hat). Dies alles im Sinne von "avoir raison", nicht etwa "avoir le droit", das im Ickler mit "kein Recht haben, sein Recht bekommen" vertreten ist. Also: "bestätigt erhalten, daß man sich nicht geirrt hat" mit kleinem "recht", "vor Gericht obsiegen" mit großem "Recht". Koll. Ludwig sollte einen Blick in Helmut Hennes langen Artikel recht in Hermann Paul. Deutsches Wörterbuch werfen ("... wobei man sich zum Teil, wie die Kleinschreibung andeutet, der substantivischen Natur des Wortes nicht mehr bewußt ist"). Ewald/Nerius (1990) führen die klein zu schreibenden Fälle unter R.K.3.1. auf: "Klein schreibt man Desubstantivierungen als Adjektive." Die beiden Autoren des Leipziger Duden stellen diesem Abschnitt eine bemerkenswerte Einleitung voran: "Die Binarität von Groß- und Kleinschreibung müßte im Grunde die Formulierung spezieller Kleinschreibregeln unnötig machen (was nicht von den Großschreibregeln erfaßt ist, kann nur klein geschrieben werden). So zeugt ihr Vorhandensein im Duden wiederum von dem Bemühen, alle denk- und vorhersagbaren Quellen von Normverstößen im Regelwerk abzudecken. Hier geht es folgerichtig in erster Linie um die Erfassung derjenigen Nichtsubstantive, die gewisse substantivische Wortartcharakteristika aufweisen und daher zu normweichender Großschreibung verleiten könnten". (S. 70 f.) So kompliziert ist die Qualitätsorthographie der deutschen Sprache, richtig furchterregend. Freilich sollte man die Proportionen richtig sehen. So echt in die Bredouille kommt man sehr selten, und wenn man dem Ickler folgt, ist man fast immer auf der sicheren Seite.
A propos "Eschatologie der Rechtschreibung". Wer sich in der neueren theologischen Literatur etwas umgesehen hat, kennt die Unterscheidung von präsentischer und futurischer Eschatologie. Auf unser Problem angewandt: Die "echte Rechtschreibreform" ist schon da, aber das haben wie bei der präsentischen Eschatologie der Theologen die Archonten dieser Welt noch nicht bemerkt. Sie heißt Normale deutsche Rechtschreibung und harrt der fleißigen Befolgung - übrigens auch s. v. fertig_stellen.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 09.06.2006 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4216

"Wie recht du hast!" = zwar nicht "auf welche Weise recht du hast", sondern "zu welchem Grade recht du hast", aber auf keinen Fall "welches Recht du hast"! Der Vergleich mit anderen Sprachen ist immer sehr interessant — und manchmal kann er sogar sehr aufschlußreich sein, aber bei "tu as parfaitement raison" muß man schon "schweinemäßig Glück haben", wenn das hier helfen soll.

Zu Prof. Jochems uns nahegelegter Vermutung, "daß diese Wendungen ursprünglich - wie eigentlich zu erwarten - ein Substantiv als Objekt enthielten" kann man auch sagen, daß diese Vermutung richtig falsch sein könnte; denn sein Substantiv kann nämlich "ursprünglich" auch adverbial — und eben nicht nur als Satzobjekt! — verwendet worden sein (Ablativ!). Unser heutiges "abends" ist ja auch ein adverbial gebrauchter Genitiv, und "jeden Sonntag" in "er kommt jeden Sonntag" ist ein adverbial gebrauchter Akkusativ. Prof. Holschuh (Indiana University) und ich haben uns mal in einem Artikel darüber gestritten, welchen Fall die Präposition "bis" eigentlich regiert, und ich bin dadurch zu dem Schluß gekommen, daß "bis" nicht den Akkusativ regiert, sondern den Dativ ("er fuhr bis Pasing, einem Vorort Münchens", "das dauerte bis Sonntag, dem dritten Tag nach der Hochzeit"), das also entgegen allen Lehrbüchern, nach denen wir hier Deutsch unterrichten! Also Substantiv, lieber Herr Kollege Jochems: "ursprünglich" vielleicht ja; aber direktes Objekt und damit gleich Recht auf heutige Großschreibung: o nein, — auch wenn Studenten mit ihren Studentenhirnen zu 50 Prozent dafür votieren. Denn wofür "gehen" Studenten nicht alles "auf die Straße" (Ickler), statt in die Bibliothek zu gehen, um mal Sachen in ihrer Tiefe auszuloten!


Kommentar von Kai Lindner (einfacher Sprachanwender), verfaßt am 09.06.2006 um 17.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4215

Ich glaube, daß gerade die Diskussion um "recht/Recht haben" den NRS-Gegnern viel der öffentlichen Sympathie gekostet hat... denn die verschiedenen Argumente für oder gegen eine der Schreibungen erschließen sich dem Normalanwender kaum noch -- hier gerät die Diskussion vollends in den Bereich des akademischen (ich will nicht sagen: des kleinlichen).

"Du hast recht/Recht" (recht/Recht haben)... "Du hast Schnupfen" (Schnupfen haben) -- mal klein, mal groß ?!

Sicherlich ist "recht haben" eine im Deutschen weitverbreitete/gerngenutzte Wendung -- und jeder will recht haben ... NRS Gegner und Befürworter -- aber die Kinken der Reform sind doch nun wirklich andere.

Beim *Lesen* professioneller Texte stolpert man eher über auseinandergerissene Worte (GZS), sonderbare neue Trennungen, merkwürdig gesetzte Kommata und nicht zuletzt die scheußliche Heyse-Schreibung. Über eine "moderat" falsche GKS stolpert man beim Lesen aber kaum.

Beim *Schreiben* ist die GKS mit langwierigen Grübeln (oder schnellem Nachschlagen), was denn aktuell richtig ist, durchaus ärgerlich... aber doch auch nicht wichtiger, als die anderen Reformbestandteile.

Das gebe ich für eine Festlegung der Wichtigkeit der einzelnen Reformbestandteile zu bedenken.

Naja... nicht jeder der recht hat, der hat auch das Recht auf seiner Seite ;-)


Kommentar von R. M., verfaßt am 09.06.2006 um 16.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4214

das Recht haben, avoir le droit
recht haben, avoir raison
nötig haben, avoir besoin


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 09.06.2006 um 15.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4213

Wenn dem auch so ist, Herr Germanist, so ist doch "raison" bzw. "racje" definitiv in jenen Sprachen nur als Substantiv existent.

Wie steht es dann mit "tu as parfaitement raison"? Wenn "raison" ein Substantiv ist, könnte hier, wenn ich mich nicht täusche, wohl kaum ein Adverb stehen.


Kommentar von Toni Trappa, verfaßt am 09.06.2006 um 15.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4212

"Ich habe recht" schreibt man klein, genau wie "ich habe fertig".

Sind nämlich beides Adverbien zu "haben".

Weitere Beispiele aus dieser Klasse:

"Ich mache blau"

"Ich tue not" (...sprach die Seefahrt).


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 09.06.2006 um 15.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4211

Zu den Beiträgen Eversberg und Germanist: Als Übersetzerin kann ich es mir nicht verkneifen, hier wieder einmal meinen Senf zu den sprachphilosophischen Kommentaren beizutragen. "Wie recht Du hast" würde man wohl mit "comme tu a raison" übersetzen, wobei allerdings zu bedenken wäre, daß die Schreibweise "wie Recht du hast" dann eigentlich mit "comme tu as le loi" übersetzt werden müßte. Bevor nun jemand mich darauf verweist, daß es diese Übersetzung ja nicht gibt, möchte ich darauf verweisen, daß dies jedenfalls ein Hinweis darauf ist, daß "wie Recht Du hast" eine semantische Fehlkonstruktion ist.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 09.06.2006 um 15.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4210

Wenn dem auch so ist, Herr Germanist, so ist doch "raison" bzw. "racje" definitiv in jenen Sprachen nur als Substantiv existent.
In der Aussage "erst recht" über Prinz Philip ist dagegen "recht" ein Idiom für "richtig", nicht für "Recht" . So gibt es das in den anderen Sprachen wohl nicht.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.06.2006 um 14.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4209

"Comme tu as raison" und "Tak ty masz racje" muß man eher mit "wie du recht hast" übersetzen. Das "wie" bezieht sich auf den ganzen Ausdruck "recht haben", "avoir raison", "miec racje".


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 09.06.2006 um 14.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4208

»Wer Witze reißt wie Prinz Philip, muss Mut haben. Und wer eine angehende Königin heiratet, erst Recht.«

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,420186,00.html

Aber noch eine sachliche Bemerkung zu dem Thema: Warum sollte man sich in der Schule nicht auch mal mit schwierigen Dingen beschäftigen? Und wie tk gerade gezeigt hat, ist es so schwierig nun auch wieder nicht. Man denke auch an den aktuellen Werbespruch eines großen Versicherungskonzerns: »Jeder hat das Recht zu erfahren, ob er [r]echt hat« (im Original mit Großschreibung). Hier treten beide Bedeutungsfälle deutlich unterscheidbar auf, das kann man sich gut einprägen. Manchmal helfen auch konstruierte Beispiele, sich den Unterschied vor Augen zu führen (alles mögliche Mögliche, von neuem von Neuem berichten [http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=48#582]).

Prof. Gallmann sagt in solchen Fällen zwar immer, das habe nicht funktioniert, aber damit denkt er immer nur an den Schreiber und nicht an den Leser. Für den funktioniert das nämlich einwandfrei.

Ich bin dafür, daß Recht haben wieder als Fehler gezählt wird.


Kommentar von tk, verfaßt am 09.06.2006 um 14.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4207

Wäre recht in Du hast recht. ein Substantiv, könnte man es mit kein negieren. Aber: Du hat kein Recht. ist nicht dessen logische Negation. Man vergleiche das mit Du hast [keine] Angst..


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.06.2006 um 13.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4206

Lieber Herr Ickler, Ihr Hinweis auf die grammatische Richtigkeit von "recht haben" wirft eine Reihe von Fragen auf. Sie stützen sich bekanntlich vor allem auf die Unzulässigkeit von "wie Recht du hast", was natürlich auch auf die übrigen Wendungen aus dieser Serie zutrifft (r. bekommen, behalten, geben ...), die aber alle weder grammatisch noch semantisch analysierbar sind. Das zeigt sich daran, daß Sie Ihren Probekontext so interpretieren, hier könne kein Substantiv stehen, ohne aber Ihrerseits die Wortart von "recht" zu bestimmen. Die Wiedergabe von "wie recht du hast" in Sprachen mit einer weniger flexiblen Wortstellung und dazu mit eindeutig substantivischen Entsprechungen von "recht" (z.B. "comme tu as raison", "jak ty masz racje"), legen aber die Vermutung nahe, daß diese Wendungen ursprünglich - wie eigentlich zu erwarten - ein Substantiv als Objekt enthielten. Dieses Gefühl werde ich auch bei der heutigen Verwendung von "recht haben, bekommen, behalten, geben ..." nicht los, würde mich also nicht wundern, wenn Ihr Corpus von jounalistischen Schreibungen auch "Recht haben" enthielte. Meine Studenten votierten bei einem Test im Jahre 1985 zur Hälfte für die Großschreibung. Hier sind Sie m. E. die Erklärung schuldig, wie Sie auch sonst mit den Varianten verfahren sind. Haben Sie auch andere als grammatisch unmöglich ausgeschieden, so daß Ihr Wörterbuch sich auf das kritisch überprüfte "Übliche" beschränkt? Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat im letzten Augenblick "recht haben" wieder zugelassen, und so wird die Presseorthographie künftig wohl verfahren. Soll aber "Recht haben" in schlichteren Texten wieder ein Fehler sein?


Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.06.2006 um 13.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4205

Zum staatlichen Präzisierungsverbot für die Rechtschreibung:
Die bewährte Getrennt- und Zusammenschreibung ist keine "sophistizierte Rechtschreibung für Gebildete" (Gerhard Augst 1997), sondern folgt nur dem mündlichen Sprachgebrauch, der durch unterschiedliche Betonungen Bedeutungen unterscheidet. Dazu Prof. Icklers Beispiel: "Menschen und Menschenaffen haben sich nicht auseinander entwickelt, sondern auseinanderentwickelt." Das ist ein gewaltiger Unterschied. Wenn also die Betonung einer Wortgruppe aus Verb + Adverb auf das Adverb vorrückt und das Verb unbetont wird, wird daraus ein neues Wort aus Verb mit Verbzusatz. Das ist eine typische Eigenschaft der deutschen Sprache.


Kommentar von R. M., verfaßt am 09.06.2006 um 13.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4204

Differenzierungsschreibungen sind die Ausnahme, und deshalb kann das »graphische Gewerbe«, wie man das zu Buchdruckerdudenzeiten noch nannte, auch auf die meisten Varianten verzichten. Etwas fertig stellen, was für ein Vorgang soll das sein? Wer sich für die zweckmäßige Zusammenschreibung entscheidet, muß die Getrenntschreibung nicht mehr dulden. Es geht auch nicht an, im selben Text so daß neben sodaß, noch mal neben nochmal stehen zu haben. Jedes gewissenhafte Korrektorat wird hier für Einheitlichkeit sorgen wollen. Das sind die Aufgaben, vor denen die SOK steht. Die Hoffnung auf eine »echte Rechtschreibreform« gehört nicht in diesen Zusammenhang, sondern in einen Forumsstrang mit dem Titel Orthographische Eschatologie.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.06.2006 um 11.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4203

Was mich betrifft, so war mein Vorschlag einer empirisch ermittelten Rechtschreibung von Anfang an mit der Forderung nach Entstaatlichung verbunden. Beides hängt sogar innerlich zusammen, denn nur das allgemein Übliche braucht nicht vorgeschrieben zu werden.
Die Dudenrechtschreibung war für die Schulen verbindlich, nicht für "jedermann". Daß andere sich daran hielten oder zu halten glaubten, war deren Sache.
Der Unterschied zwischen einer professionellen Orthographie und einer für jedermann handhabbaren ist nur ein didaktischer. Wer erst nachschlagen muß, ist gewiß in der Situation, einen mehr oder weniger offiziellen Text verfassen zu müssen, also keine Urlaubsgrüße. "Jedermann" will in solchem Falle professionell schreiben. Mein Wörterbuch ist, kurz gesagt, ungefähr die FAZ-Orthographie - folglich professionell. Nur fürs Programmieren muß man sich bei den Varianten entscheiden. Das hält sich aber in Grenzen. Wären die Varianten bereits im Wörterbuch reduziert, so wäre es erstens nicht mehr empirisch gegründet und zweitens wieder so unbeherrschbar wie der alte Duden.
Dann gibt es noch den korrigierenden Lehrer. Eigentlich müßten die Schüler auf die Straße gehen und verlangen, nach meinem Wörterbuch korrigiert zu werden, das würde ihnen sehr entgegenkommen. Statt dessen gehen sie auf die Straße, um im Sinn des VDS Bildungsmedien und der GEW die Durchsetzung der unbeherrschbaren Reformschreibung zu fordern. Das nenne ich Verblendung.
Bei "Recht haben", lieber Herr Jochems, hört meine Liberalität naturgemäß auf, weil mein Wörterbuch keine grammatisch falschen Schreibweisen zuläßt. Der Fall ist a. a. O. hinreichend deutlich erklärt.


Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 09.06.2006 um 11.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4202

Sein "Schärflein (Korn) ins Trockene bringen" ... soweit ich weiß.

Aber was ist mit der neuen Idiotenschreibung von ss/ß? Soll man diese forthin akzeptieren und in ihrem Schatten die NRS weiter (zum Besseren ?) reformieren?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.06.2006 um 10.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4201

Den Erfordernissen der Wissensgesellschaft folgend will ich meine letzte Einlassung noch einmal präzisieren. Es geht dabei ausschließlich um die Differenzierung durch Groß- oder Kleinschreibung und natürlich durch Getrennt- oder Zusammenschreibung. Differenzschreibungen gibt es auch auf der untersten Ebene, bei der graphischen Umsetzung von Phonemen, also "Seite" vs. "Saite", "Lerche" vs. "Lärche", "Wagenbauer" vs. "Waagenbauer" (seit 1928) usw. Daran hat niemand die Hand gelegt und wird es auch in Zukunft nicht tun.

Durch die Opposition groß/klein unterscheidet die Dudennorm subtiler: "Die dritte von rechts" vs. "die Dritte auf dem Treppchen", "Hallo Ihr fünf in Lübeck" vs. "die großen Drei in Potsdam", aber auch: "sein Schäfchen ins trockene bringen" (= seinen Vorteil zu wahren wissen) und "sein Schäfchen ins Trockene bringen" (angesichts der Überschwemmung der tiefer liegenden Wiese). Dies alles sieht doch wohl eher nach Norbert Schäblers Geßlergut aus, den Bezug zu den Erfordernissen der Wissensgesellschaft oder zur Verhinderung der Ergebnisgleichheit in der Einheitsschule sehe ich nicht.

Die Opposition getrennt/zusammen hat in der Dudennorm noch merkwürdigere Blüten getrieben. Univerbierungen geben sich bekanntlich durch den zentrierenden Akzent zu erkennen. Das ist im Deutschen ein Indiz, daß wir es mit einem einheitlichen Wort zu tun haben, also tunlichst die Zusammenschreibung wählen. Der Duden dekretierte dagegen bis zuletzt, daß zur Unterscheidung von Grundbedeutung und abgeleiteter Bedeutung auch zentrierend akzentuierte Univerbierungen getrennt zu schreiben sind, also: "den Weg frei machen" vs. "sich freimachen" (in beiden Bedeutungen). Die Dudendifferenzschreibung "Schüler auseinander setzen" vs. "sich mit einem Problem auseinandersetzen" hat noch in den letzten Pressekonferenzen des Ratsvorsitzenden Zehetmair einer Rolle gespielt - als gelungene Wiederherstellung einer an der Bedeutung orientierten Unterscheidung. Als Gerhard Augst "fertigstellen" auseinanderriß, gab es einen Schrei der Empörung, den alten Dudenunsinn möchte Jens Stock jedoch weitergelten lassen - wegen der Wissensgesellschaft.

Was folgt daraus? Man muß dem deutschen Rechtschreibdilemma in die Augen schauen - in beide und mit beiden Augen, und man muß mit kühlem Kopf auf einen Ausweg sinnen. Das polemische Arsenal der letzten zehn Jahre hilft jetzt niemandem mehr weiter - weder den Betreibern noch den Kritikern der Rechtschreibreform.



Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 08.06.2006 um 22.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4200

„Der Fetisch Norm“

Es gab einmal vor Jahren auf der Internetseite www.rechtschreibreform.com einen Diskussionsfaden mit dem Titel: „Der Fetisch Norm“.
Die Norm kam dabei ziemlich gut weg.
Der Fetisch wurde ignoriert.
Die Diskussion wurde irgendwann abgebrochen, weil keiner bereit war, den "Gesslerhut" zu grüßen.


Kommentar von Jens Stock, verfaßt am 08.06.2006 um 22.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4199

Ganz meine Meinung! Das Wegreformieren von Präzisierungsmöglichkeiten verträgt sich ganz und gar nicht mit den Erfordernissen einer Wissensgesellschaft, zu der wir uns ja (angeblich) entwickeln. Nein, dieses Wegreformieren beruht auf dem Motto: „Was viele nicht vollständig beherrschen, soll lieber gar niemand können.“

Letzteres ist übrigens in unserem heutigen Bildungswesen und den damit zusammenhängenden Grundsatzdiskussionen in vielfältiger Form zu finden. Von „Chancengleichheit“ wird oft gesprochen, doch Ergebnisgleichheit ist gemeint: alle sollen dasselbe können; niemand soll besser sein als andere, niemand soll sitzenbleiben.

Was liegt also näher, als alle Schüler, ungeachtet ihrer individuellen Begabungen und Fähigkeiten, gemeinsam an einer Einheitsschule zu unterrichten? Sie fragen, wo nun der Zusammenhang ist? – Ganz einfach. Das ist jeweils staatlich verordneter Einheitsbrei auf niedrigem Niveau – für alle.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 08.06.2006 um 22.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4198

H. Jochems: »Eine solche Norm mit orthographischen Präzisierungsmöglichkeiten, die darin die gesprochene Sprache weit übertrifft, ist gewiß ein Gipfel in der Sprachentwicklung, kann aber nicht für jedermann verbindlich gemacht werden. Das war die Ausgangslage für die seit 1955 von der Kultusministerkonferenz geforderte Rechtschreibreform.«

Hier wird der Kern des Übels beschrieben, das mit der Rechtschreibreform angerichtet wurde. Es gibt nämlich keinen Grund, in so einer Situation zu einer Rechtschreibreform zu schreiten, welche die Schreibweisen verändert, denn jene weisen keinen funktionellen Mangel auf, der nur auf diese Weise zu beheben wäre! Das zu lösende Problem liegt ganz woanders, nämlich in dem Anspruch, jeder müsse das beherrschen. Das wäre in etwa so, als verlangte man von jedem Schulabgänger, sich mit Differential- und Integralrechnung, unendlichdimensionalen Räumen und darauf definierten Operatoren, spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie, Präzisionsmeßverfahren, anorganischen Analyse- und organischen Syntheseverfahren, molekularer Genetik, theoretischer Ökologie, innerer Medizin, Tiefenpsychologie, diversen philosophischen und theologischen Gedankengängen, der Kunst- und Literaturgeschichte, Obertongesang, Musikinstrumentenbau, Segelfliegen, Aikido, Tanztheater usw. usf. auszukennen – vollkommen abwegig!

All diese teilweise hochspezialisierten Dinge sind definitiv nicht jedermanns Sache, aber das ist kein Grund, sie wegzureformieren! So auch in der Rechtschreibung: (orthographische) Präzisierungsmöglichkeiten, welche die der gesprochenen Sprache weit übertreffen – wie wunderbar! Daß es so etwas gibt! Finger weg von diesem Kulturgut und genau hingeschaut, wie man es in den anderen angesprochenen Bereichen macht: Was davon braucht man, was ist beherrschbar, was kann man getrost auf später verschieben oder gänzlich außer Betracht lassen? Das ist so naheliegend und vernünftig, daß man gar nicht weiter darüber nachzudenken braucht. Warum aber sollte das in der Orthographie anders sein? Warum eine Sache selbst verändern, wenn nur der Umgang mit ihr verfehlt ist? Herr Jochems sagt richtig: „Eine solche Norm ... kann aber nicht für jedermann verbindlich gemacht werden.“ Na, dann ist doch klar, was zu tun ist: Ein durchdachtes Curriculum muß her, und nichts anderes. In einer solchen „Ausgangslage“ kann eine Rechtschreibreform nur Schaden anrichten.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.06.2006 um 20.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4197

"Regel" ist im Hinblick auf sprachliche Phänomene ein mehrdeutiges Wort. Man kann darunter die Feststellung der Regularitäten verstehen, die man textlich in spontan entwickelten Ausdrucksbereichen beobachtet, aber auch als Handlungsanweisung an die Sprachbenutzer. Je komplizierter das System einer Sprache ist, um so detaillierter müssen auch die Regeln sein - despriptiv wie präskriptiv. Die deutsche Rechtschreibung war zuletzt in der Hand der Dudenredaktionen weit über die Grenze hinausgeraten, die für normale Sprachbenutzer zumutbar ist. Auf dieser Webseite wird dieser Zustand häufig "Qualitätsorthographie" genannt, die besonders für die gehobene Belletristik charakteristisch war und weiterhin ist. Hier ist jedoch das ehrliche Eingeständnis wichtig, daß diese Höhenlage für viele bekannte Schriftsteller unerreichbar war, daß vielmehr hochspezialisierte Verlagslektoren über die makellose sprachliche Form der von ihnen verlegten Werke wachten. Eine solche Norm mit orthographischen Präzisierungsmöglichkeiten, die darin die gesprochene Sprache weit übertrifft, ist gewiß ein Gipfel in der Sprachentwicklung, kann aber nicht für jedermann verbindlich gemacht werden. Das war die Ausgangslage für die seit 1955 von der Kultusministerkonferenz geforderte Rechtschreibreform. Betraut wurde mit dieser Aufgabe schließlich eine Arbeitsgruppe, die den damit verbundenen Problemen weder fachlich noch bildungsmäßig gewachsen war. Inzwischen hat Professor Ickler für die Orthographie der gehobenen Publizistik gezeigt, wie eine akzeptable Lösung aussehen könnte. Auf dieser Grundlage ließe sich auch ein Rechtschreibratgeber für die allgemeine Öffentlichkeit erarbeiten. Seit 1996 hat jedoch mancher jüngere Schreiber an der revidierten ss/ß-Regel Gefallen gefunden, so daß an dieser Stelle zumindest sich die Ausgangslage nochmals verändert hat. Da die jetzigen Verwerfungen auf dem Wege über die Schule eingeführt wurden, müßte so auch die Bereinigung erfolgen. Dazu fehlt heute aber bei den Verantwortlichen die Bereitschaft. Man sollte also mit Geduld warten, bis sich das Fenster für eine echte Rechtschreibreform öffnet. In der Zwischenzeit wird keine kulturpolitische Katastrophe eintreten, und die Internetsuchmaschinen werden ebenfalls nicht an der uneinheitlichen Rechtschreibung verzweifeln. Die Erkenntnisse und Einsichten der letzten zehn Jahre sollten wir uns aber bewahren.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 08.06.2006 um 15.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4196

In mehreren Beiträgen habe ich versucht, auch dem reinen Anwender, man könnte auch sagen: dem Kunden, zu seinem Recht zu verhelfen. Eine riesige Mehrheit von Schreibenden möchte einfach wissen, wie man richtig schreibt. Sie sind bereit, einer Autorität zu folgen. Die Frage nach deren Legitimation werden sie sich höchst selten stellen. Ich wehre mich dagegen, dieses Bedürfnis geringzuschätzen und die Ratsuchenden mit schönen Worten von Demokratie, Schöpfertum und Emanzipation abzuspeisen. Sache der Fachleute ist es, Normen zu finden und in eine Form zu bringen, die weiterer Entwicklung Raum gibt. Das ist schwierig genug, wie uns gerade auch die irregeleitete Reform gelehrt hat. – Wenn ich im übrigen von Regeln gesprochen habe, so meine ich nicht ein Regelwerk zum Nachschlagen, sondern das Wörterverzeichnis als dessen Konkretisierung.


Kommentar von Augias, verfaßt am 08.06.2006 um 13.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4195

Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.06.2006 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4194

Wenn Rechtschreibung eine Konvention ist, so treffen sich die Anwender auf der Ebene des als richtig Anerkannten. Und da dies nicht urdemokratisch geschehen kann, ist diese Ebene ein als verbindlich akzeptiertes Regelwerk nebst Wörterbuch, ganz ohne amtliches Siegel. In der Schule, als dem einzigen Ort, an dem die Orthographie verrechtlicht ist, mag dann das Verbindliche immerhin amtlich werden. (Kratzbaum)

Warum ist "Vieh" die richtige Schreibung, wäre eine radikale Reformschreibung wie "Fi" also falsch? Ein Germanist alter Schule würde uns aufklären, was sich alles an historischen Entwicklungen in der "richtigen" Schreibung "Vieh" verbirgt. Sie ist ein interessantes, liebenswertes sprachgeschichtliches Fossil. Alle schreiben so, "Vieh" ist also allein üblich. Wer das Übliche zur Norm erhebt, geht einen Schritt weiter: Nur diese einzigartige Schreibung ist richtig. "Falschschreiber" setzen sich jedoch nicht über eine verbindliche Regel hinweg. Anleitungen zur Schreibung der Wortstämme haben in einem orthographischen Regelwerk nichts zu suchen. Darum sind Gerhard Augsts Begründungen seiner (volks)etymologischen Schreibungen durch die Bank abzulehnen. Lediglich bei "überschwenglich" haben sich in der Vergangenheit viele nachdenkliche Schreiber gewundert.

Regeln benötigt man im Deutschen nur für die Sonderbereiche Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung. In den besonders kritischen Grenzfällen geht es nicht einmal um Regularitäten, die sich im Laufe der Schreibgeschichte entwickelt haben, sondern um Festlegungen der Dudenredaktionen von 1901 bis 1991. Ewald/Nerius (1990) erläutern unter R.K.4.1: "Klein schreibt man die nur scheinbar (d. h. im Hinblick auf ihre Form) substantivierten Adjektive, Partizipien und Adverbien, auch wenn sie mit Artikel, Präposition und/oder Pronomen verbunden sind. Viele dieser festen Verbindungen lassen sich durch ein bloßes Adjektiv oder Partizip, ein Adverb oder Pronomen ersetzen." Was soll der nicht sprachwissenschaftlich vorgebildete Schreiber damit anfangen? Die Ersetzungsprobe als Teil der Regel hilft in ihrer Vagheit auch nicht weiter. Konsequenterweise folgt eine Liste mit 180 Einträgen. Eigentlich wird der Schreiber hier nur auf einen Problembereich aufmerksam gemacht. Es hätte der Hinweis genügt, daß bei substantivierten Adjektiven, Partizipien und Adverbien tunlichst nachzuschlagen ist. Kann jedoch eine Schreibung als üblich gelten, die ihre Existenz lediglich einer vagen Regel und ihrer Aufnahme in ein normatives Wörterverzeichnis verdankt? Es geht aber noch weiter. R.K.4.2 lautet: "Substantivierte Adjektive und Partizipien werden in festen Redewendungen mit übertragener Bedeutung klein geschrieben. Bei Unklarheit darüber, ob noch die wörtliche oder schone eine übertragene Bedeutung vorliegt, schreibe man klein." So rigoros wie meist behauptet war also auch die Dudennorm nicht. Immerhin verheimlichen Ewald/Nerius nicht, in welche Labyrinthe sich der naive Sprachbenutzer begibt, der in diesem Grenzbereich der deutschen Groß- und Kleinschreibung einem "als verbindlich akzeptierten Regelwerk nebst Wörterbuch" seiner Reverenz erweisen möchte:

Neben diese Schreibanweisungen ist eine andere Gruppe orthographischer Regeln zu stellen, die gleichfalls eine fälschliche Identifizierung von Nichtsubstantiven und formgleichen Substantivierungen verhindern sollen. Während sich die Festlegungen zur Kleinschreibung von Pseudosubstantivierungen und Pronomen / Numeralien aber auf bestimmte Erscheinungen des Wortartsystems beziehen (speziell auf das Auftreten substantivischer Wortartmerkmale im nichtsubstantivischen Bereich), liegt die Quelle möglicher Normverletzungen hier auf der syntaktischen Ebene des Sprachsystems. Daher lassen sich die entsprechenden Beispiele nur innerhalb konkreter Sätze als Problemfälle kennzeichnen. (S. 85)

Sage nun niemand, dies alles spiele in der Schreibpraxis doch eine so geringe Rolle, daß sich die Aufregung nicht lohnt. Nun gut, dann sollte man aber auch die Augstschen Verhunzungen in diesem Bereich mit nachsichtigem Schweigen übergehen. Etwas anders liegen die Probleme im Bereich der Univerbierungen, die der Rat für deutsche Rechtschreibung unter Peter Eisenbergs Anleitung gerade neu geregelt hat. Was hier künftig richtig sein soll, hängt wieder in vielen Fällen von Lexikographenentscheidungen ab und wird angesichts der wohl nicht möglichen Koordinierung mehrerer unabhängig voneinander arbeitender Redaktionen zahlreiche Varianten produzieren. Mit diesen Problemen werden sich vor allem die mit der Vereinheitlichung der künftigen Presseorthographie befaßten Arbeitsgruppen herumschlagen müssen. Verbindliche Norm? Man muß sich schon eine andere Sprache und eine andere Rechtschreibung wählen, wenn man daran hängt. In kompetenter Hand wäre eine amtlich angeregte Entrümpelung unserer Orthographie vor zehn oder zwanzig Jahren möglich gewesen. Diese Chance ist vertan. Unsere Rechtschreibung wird nun wohl lange kontrovers bleiben.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.06.2006 um 15.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4185

Anders als Herr Prof. Jochems kann ich nicht erkennen, daß auch die Reformgegner ein amtliches, also quasi mit Gesetzeskraft ausgestattetes Regelwerk fordern. Vielmehr möchten sie den Staat gerade nicht mit der Rechtschreibung befaßt sehen. Darum kreist doch zuvorderst die ganze Diskussion seit Anbeginn. Etwas ganz anderes ist der Wunsch nach einem verbindlichen Regelwerk samt Wörterbuch. Sich an sein Sprachgefühl zu halten, ist eine gern gehörte Empfehlung. Aber das Sprachgefühl fällt nicht vom Himmel, sondern ist bestenfalls eine Fähigkeit, die geschult und entwickelt werden muß. Dazu braucht es Vorbilder, und es kann nicht zweifelhaft sein, welche das sind. Wenn Rechtschreibung eine Konvention ist, so treffen sich die Anwender auf der Ebene des als richtig Anerkannten. Und da dies nicht urdemokratisch geschehen kann, ist diese Ebene ein als verbindlich akzeptiertes Regelwerk nebst Wörterbuch, ganz ohne amtliches Siegel. In der Schule, als dem einzigen Ort, an dem die Orthographie verrechtlicht ist, mag dann das Verbindliche immerhin amtlich werden.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 07.06.2006 um 13.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4180

Ein amtliches Regelwerk gibt es nicht und kann es nach dem BVerfG-Urteil nicht geben. Wer solches jetzt auf sein Wörterbuch druckt, gehört abgemahnt!
Es kann nur ein Regelwerk geben zur Disziplinierung der Schüler, alle anderen Bereiche können es ignorieren, auch Behörden. Obwohl nach wie vor gebetsmühlenartig "Schulen und Behörden" repetiert wird.
Der "Grundbestand" mag unbeschädigt sein, aber es bleibt ein allzu großer Rest von irritierenden, vollkommen unnötigen Varianten und natürlich grassierenden "reformogenen" Folgefehlern (Übergeneralisierung etc.), die leider auch keine Software verhüten oder ausmerzen kann.
Wir brauchen eine Orthographische Konferenz, die mindestens diese Fakten endlich mal klarstellt. Kapieren (wollen) werden es freilich auch dann nur wenige.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 07.06.2006 um 12.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4179

In der gegenwärtigen Situation kommt es darauf an, aus den Fehlern der Reformer zu lernen, auch aus den grundsätzlichen. Gerhard Augst hat im Frühjahr 1997 einen Gedanken formuliert, der jetzt wieder an Aktualität gewinnt: Bei dem ungeheuren gesellschaftlichen Stellenwert, den die Rechtschreibung hat, ist es auch nicht möglich, eine einfache Rechtschreibung für das einfache Volk und eine sophistizierte Rechtschreibung für die Gebildeten zuzulassen. Man beachte zunächst das Ende dieses Satzes. Daß eine Rechtschreibung nicht als Gepflogenheit legitimiert ist, sondern zu ihrer Durchsetzung der Machtfülle der nach eigenem Verständnis dazu berufenen Instanz bedarf, des Staates nämlich, ist auch heute noch das verbindende Band zwischen Reformbefürwortern und -kritikern. Ein amtliches Rechtschreibwörterbuch (im Singular) fordern vielleicht nicht mehr alle, aber ohne ein amtliches Regelwerk geht es angeblich nicht. Daran hat sich in den zehn Jahren der Auseinandersetzung nichts geändert – verlorene Jahre.

Wenn man die klassenkämpferischen Töne aus Gerhard Augsts Satz herausnimmt, ist auch der Rest Gemeingut aller, die sich zur Rechtschreibreform äußern. Falsch war natürlich Augsts Lösung, die "sophistizierte Rechtschreibung" aufzugeben und eine einfache für alle zu kreieren – richtiger: kreieren zu wollen. Daß die Rechtschreibung einer Sprache ein Angebot darstellt, von dem in sehr breit gestreuten Anwendungssituationen unterschiedlich Gebrauch zu machen ist, harrt ebenfalls nach zehn Jahren noch der Entdeckung – in beiden Lagern. Am Anfang der amtlich geregelten deutschen Rechtschreibung vor hundert Jahren stand die Unterscheidung von allgemeinen und fachlichen Anwendungen. Die Schweizer Orthographische Konferenz bringt gerade diese Vorstellung wieder ins Spiel, ohne freilich ihre Konsequenzen zu bedenken. Professor Ickler hat eine solche Fachorthographie, die der gehobenen Publizistik vor 1996, gründlich untersucht und lexikographisch dargestellt. Daß es sich dabei um variantenreiche Texte handelte, die von den Korrektoraten bzw. später von den Korrekturprogrammen nicht beanstandet worden waren, erscheint im nachhinein beachtlich. Immerhin fußt darauf jetzt die feine Unterscheidung zwischen "normiert" und "üblich". Wie die Allgemeinheit vor 1996 geschrieben hat, weiß dagegen niemand. Eine zukünftige Rechtschreibung, die an das unbeschädigt Übliche anknüpfen soll, ist also weiterhin auf Vermutungen angewiesen.

Dies alles betrifft glücklicherweise nur periphere Bereiche der Getrennt- und Zusammenschreibung bzw. der Groß- und Kleinschreibung. Die Einheitlichkeit des Grundbestandes der Einzelwortschreibungen ist dagegen unbeschädigt. Sich von der Handvoll Augstscher Verhunzungen vom Schlage "belämmert" zu trennen wird auch verblendeten Anhängern seiner Rechtschreibreform nicht schwerfallen. Unternehmen wie der Schweizer Orthographischen Konferenz muß man also Mut machen, sich bei ihrer Revisionsarbeit nicht von unbrauchbaren Vorgaben gängeln zu lassen. Sehr deutlich ist aber auch zu sagen, daß es sich hier nur um die Wiederherstellung einer einheitlichen Fachorthographie handelt. Jedermann sonst sollte sich an sein Sprachgefühl halten. Es gibt nur weniges, das wirklich falsch ist. Wer es besser zu wissen meint, sollte angesichts der künftig erscheinenden Varianten Toleranz üben.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 07.06.2006 um 09.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4178

Die Schweiz hat es etwas einfacher, weil sie nicht von der Heyse-Schreibung geplagt ist. Die von der Konferenz vorgeschlagene Verfahrensweise führt unter Schweizer Bedingungen dazu, daß normale Rechtschreibung nicht mehr auffällt.


Kommentar von F.A.Z., 07.06.2006, Nr. 130 / Seite 4, verfaßt am 06.06.2006 um 19.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4177

»Spätes Erwachen

ZÜRICH, 6. Juni. Schweizer stehen früh auf, sagt ein Bonmot, erwachen aber spät. Der kesse Spruch bestätigt sich wieder einmal bei der Rechtschreibreform. Die ersten Änderungen haben die Eidgenossen erstaunlich klaglos hingenommen, etliche Zeitungen wechselten schneller als deutsche Medien zur neuen Schreibweise und schrieben "platzieren" statt plazieren oder "gräulich" anstelle von greulich. Kaum ist die erste Reform wegen der deutschen Proteste teilweise revidiert und die gröbsten Mißgriffe beseitigt, da regt sich auch bei den Schweizern Unmut über selbsternannte Rechtschreibreformer und ihren bürokratisch verordneten Unsinn.

Unter dem Motto "Wo der Amtsschimmel als Sprachschöpfer auftritt, wird es selten gut", trafen sich jetzt zum ersten Mal Journalisten, Verleger, Lehrer und Professoren zu einer Orthographischen Konferenz in Zürich und übten zivilen Ungehorsam. "Die Sprache muß wie eine saubere Scheibe sein", sagte der Basler Professor Rudolf Wachter. Man sei den Wirrwarr leid, den die Regierenden zwischen der jetzt zulässigen Variante der alten und der neuen Rechtschreibung angerichtet hätten. Gemeint seien damit auch jene Schweizer, die in der zwischenstaatlichen Kommission saßen, sagte Wachter. Die Regeln der alten Rechtschreibung seien klarer und konsistenter gewesen.

Unterstützung erhielten die Schweizer von deutschen Reformgegnern. "Nach der Teil-Revision der ersten Reform wurde der Rechtschreib-Frieden verfügt, doch das war voreilig", sagte Professor Horst Haider Munske, der früher an der Universität Erlangen lehrte. Munske ermunterte die Eidgenossen ausdrücklich zum Widerstand, sie sollten sich nicht von der deutschen Kultusministerkonferenz überfahren lassen. "So mancher deutsche Politiker wäre nicht unfroh", sagte er, "wenn die Schweizer mit ihrer Präzision und Bedächtigkeit einiges korrigieren würden." Die Deutschen hätten "großen Respekt vor der Schweizer Urdemokratie".

Wagen die Eidgenossen also nun den Aufstand, wollen sie - wie einst der wackere Tell - denen da oben die Sprache aus der Hand schlagen, weil diese dem Volk gehört? Der Unmut wächst, die Zahl der Aufmüpfigen ist jedoch noch klein. Angeführt wird sie vom ehemaligen Fernsehmoderator und heutigen Chef des Jean Frey Verlages ("Weltwoche"), Filippo Leutenegger, der wegen seiner politischen Ambitionen als Rechtsliberaler manch einem nicht ganz geheuer ist. Das sprachliche Hin und Her ist einigen wichtigen Medien egal, denn die haben, wie etwa die "Neue Zürcher Zeitung", eine eigene Haus-Orthographie. Die Konferenz empfahl allen Schreibern, immer dort, wo es nun sprachliche Varianten gibt, die alte Rechtschreibung zu benutzen und sich bei Worten wie "aufwändig" oder "gräulich" mit Grauen von solchen sprachlichen Greueln abzuwenden. (km.)«



Kommentar von Biertrinker, verfaßt am 06.06.2006 um 17.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4175

Ist es denkbar und realistisch, nach diesem Vorbild auch anderswo "orthographische Konferenzen" abzuhalten? Vielleicht mitten in Mannheim oder z. B. in Wien? Wir wüßten ja, wen wir einzuladen haben. Und die dann ausgesprochenen Empfehlungen an Verlage und Medien hätten doch vom Namen her einigen Klang, finden Sie nicht?


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.06.2006 um 16.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4174

Ja natürlich kann eine noch so gute Software grundsätzlich in vielen Fällen keinen Fehler feststellen, das war schon längst so. Nur jetzt sind diese Fälle wegen der Variantenfülle noch viel zahlreicher. Und: die Software kann noch nicht mal für textinterne Konsistenz sorgen, sie wird also innerhalb desselben Textes sowohl "fertig stellen" also auch "fertigstellen" durchgehen lassen, ja sogar "durch gehen" lassen. Wenn das dann noch immer keinen stört, hat das Schreibvolk einschließlich des Goethe-Instituts eben den Zustand, den es verdient.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.06.2006 um 16.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4173

H. Jochems: »Wenn die jetzigen Bestrebungen lediglich auf eine Wiederherstellung des alten Zustandes hinauslaufen, waren das für sie und die gesamte deutsche Schreibgemeinschaft im doppelten Sinne zehn verlorene Jahre.«

Habe ich Sie richtig verstanden und wollen Sie damit letztlich darauf hinaus, daß diese Jahre nicht ganz und gar verloren sind, wenn man die Gunst der Stunde nutzt, um die 1915 eingerührte Malaise zu überwinden? Das wäre in der Tat eine erhebliche Verbesserung gegenüber der vorreformatorischen Zustand. Andererseits kommt man aber auch nicht umhin, an die Möglichkeit zu denken, daß sich das Reformexperiment noch mehrere Jahrzehnte hinzieht, in denen wir sowohl von den „vor 1996 üblichen Schreibungen“ (Ickler) als auch einer „freiheitlichen Rechtschreibung für jedermann“ (Jochems) deutlich entfernt bleiben. Das sind dann allemal verlorene Jahre, und da wären wir mit einer Rückkehr zur Schreibweise von vor 1996 gar nicht so schlecht bedient, vorausgesetzt, daß das Dudenprivileg (das ja mit dazu beigetragen hat, daß dessen Regelung so pedantisch wurde) nicht wieder eingeführt wird.

Kurz: Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Außerdem bleibt dann ja immer noch die Möglichkeit, es wie in Frankreich zu machen und in der Schule bestimmte Bereiche von der Notenrelevanz auszunehmen. Dann hätten wir zwar immer noch die Situation, daß das Buchdruckerwörterbuch den Maßstab für alle setzt, aber es wären nicht alle davon in voller Strenge betroffen. Auch das kommt mir durchaus akzeptabel vor; letztlich könnte man auch darüber zu einem Konzept kommen, wie es der „Normalen deutschen Rechtschreibung“ zugrundeliegt.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.06.2006 um 16.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4172

Ja natürlich kann eine noch so gute Software grundsätzlich in vielen Fällen keinen Fehler feststellen, das war schon längst so. Nur jetzt sind diese Fälle wegen der Variantenfülle noch viel zahlreicher. Und: die Software kann noch nicht mal für textinterne Konsistenz sorgen, sie wird also innerhalb desselben Textes sowohl "fertig stellen" also auch "fertigstellen" durchgehen lassen, ja sogar "durch gehen" lassen. Wenn das dann noch immer keinen stört, hat das Schreibvolk einschließlich des Goethe-Instituts eben den Zustand, den es verdient.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.06.2006 um 16.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4171

Meine Hochachtung vor den Schweizern, die sich nicht mehr vor dem deutsch-österreichischen KMK-Geßlerhut verbiegen wollen. Die Varianten mit vorreformierten Schreibweisen waren doch nur widerwillig nachträglich von der KMK zugelassen worden mit der festen Erwartung, daß die reformierten Varianten sich durchsetzen werden. Jetzt ist Ausmisten angesagt, es stinkt uns.


Kommentar von David Weiers, verfaßt am 06.06.2006 um 15.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4170

Es geht ja nicht darum, arroganten Kultusbürokraten eine Niederlage zu bereiten.

Ich denke, es geht darum, durchaus arrogante Kultusbürokraten daran zu hindern, eine zumeist syntaxorientierte othographische Entwicklung des Schriftdeutschen sinnlos um- und auseinanderzulenken.

Ich glaube generell nicht, daß Reformkritik überhaupt dauerhaft nur von Normfetischisten betrieben werden kann; die gibt es zwar sicherlich, und wohl hauptsächlich unter den aufgeweckteren Lehrern, die sich tatsächlich primär um ihre Profession Sorgen machen -- was ja nun aber auch mehr als verständlich ist. Allerdings trifft Herr Ickler es hier doch genau: "Es ging und geht bei der Schulrechtschreibung immer um ganz zentrale Fehler". Alles andere blieb auch vor 1996 quasi außen vor und war doch sowieso vom jeweiligen Lehrer abhängig. Nur im Zweifelsfall war eben der Duden maßgeblich. Ich frage mich allerdings, ob in der Schule dieser Zweifelsfall wirklich so von Belang war, ob da wirklich mal die Eltern mit dem Duden zum Lehrer kamen; denn der hat wohl bestimmt nicht immer nachgeschlagen.
Bei Lichte betrachtet ist orthographische Varianz doch auch kein Manko. (Ich persönlich sehe da Parallelen zu einer Population mit großem Genpool: ist für die Entwicklung einfach nützlicher.) Vielmehr geht Chaos eben genau daraus hervor, daß diese Varianz auf Gedeih und Verderb für die Schule geregelt und vorgeschrieben wird, genau, wie es die Reform doch versucht hat. Denn nichts anderes wollte sie doch: Regeln in ein so gar nicht existentes Durcheinander bringen, und zwar Regeln, die einem Schüler "algorithmisch beibringbar" sind.
Wenn ich mir heutige Deutschbücher ansehe, dann frage ich mich, wie man mit ihnen überhaupt jemandem Sprachkompetenz beibringen will; eine x-beliebige Illustrierte leistet diesbezüglich genau dasselbe. Insofern haben sich die an der Reform beteiligten Didaktiker ein schönes Eigentor geschossen. Warum das so gelaufen ist... darüber möchte man am liebsten lachen, wenn es nicht so traurig wäre. (Ne?)

Ich glaube, daß das Bewußtsein darüber, was die Dudennorm überhaupt für eine Norm war bzw. in welchem Rahmen man sie überhaupt als eine Norm bezeichnen konnte, mittlerweile im größeren Stil geweckt wurde (oder geweckt werden könnte?). Daß auch der Duden vor 1996 von Varianten nur so wimmelte, wird im Zuge des Normwahns (der doch durch die Reform erst ausgelöst wurde) gerne vergessen. Der Reformduden allerdings wimmelt zwar immer noch von Varianten, aber er versucht darüber hinaus, jede Variante quasi juristisch abzusichern; mit einem Regelwerk, das der Sprache nun einmal nicht gerecht wird.
Klar, daß Chaos ausbricht.

Wenn es eine Art Buchdruckernorm geben sollte, wenn also der Vorreform-Duden dahingehend wieder angestrebt wird (und zwar letztendlich als Reaktion auf die Reform!), dann wird diese Norm -- ebenso wie eine Schulnorm es ja sollte -- nicht vom Grundprinzip des Schriftdeutschen abweichen; d.h. auch, daß die Buchdrucker- und Schulregeln sich idealerweise decken müssen, weil sonst für die Schüler gilt, was im Leben außerhalb der Schule nicht gelten kann, weil es Schwachsinn ist. Und wenn im einzelnen Varianz existiert, dann ist die doch eher irrelevant.
Ich sehe nicht, inwiefern das der Lösung der orthographischen Probleme hinderlich sein soll. Denn wenn es eine Buchdruckernorm gäbe, die quasi identisch mit einer Vorreform-Dudennorm ist, dann wird der Kultusapparat mitziehen müssen, ansonsten hätte sich die Schulrechtschreibung in die Bedeutungslosigkiet getrieben. Und zwar letztlich durch eben die Reform selbst.


Kommentar von H. J., verfaßt am 06.06.2006 um 15.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4169

Lieber Herr Eversberg, überprüfen Sie die folgenden drei nach Duden 1991 geschriebenen Sätze mit den beiden Versionen Ihrer Rechtschreibkontrolle. Meine merkt nichts, auch dann nicht, wenn man an den kritischen Stellen etwas verändert:

Wir werden Ihnen den Weg frei machen, jede Postsendung problemlos freizumachen.

Nicht jeder Fischer, der im Trüben fischt, fischt auch sonst im trüben.

Es geht ins leere, einen solchen Fortschritt ins Lächerliche zu ziehen.

Ergebnis: Wer nach der klassischen deutschen Orthographie hier nicht anhaken will, muß ein rechter Schreibvirtuose sein (oder aber den Duden geöffnet auf seinem Schreibtisch liegen haben).



Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.06.2006 um 15.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4168

H. Jochems: »Vielleicht lasse ich meinen fleißigen Computer einmal auszählen, wie oft auf "Schrift und Rede" das Loblied auf Norm und Einheitlichkeit gesungen worden ist.«

Au ja, machen Sie das doch mal; ich bin wirklich neugierig, was Sie da bemerkt haben, mir aber bislang nicht aufgefallen ist.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.06.2006 um 15.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4167

Was genau ist eine "handhabbare Rechtschreibung"? Eine, wurde schon oft gesagt, bei der man möglichst selten ein Wörterbuch braucht. Die Reformschreibung ist keine solche - einige der "Räte" leben ja davon, daß sie es nicht ist. Die Grauzone zwischen falsch und richtig muß möglichst schmal sein, das ist eine Grundbedingung, und die gilt auch sogar für das britische bzw. amerikanische Englisch. Unsere wurde künstlich verbreitert, was den Griff zum Wörterbuch häufiger statt seltener erforderlich macht.
Daß nur 1% der Wörter betroffen sind, ist kein Argument - per Übergeneralisierung der scheinbar logischen Regeln sind viel mehr
Wörter scheinbar betroffen, d.h. die Grauzone sieht NOCH breiter aus
als sie ist. Und bei der s-Regel sorgt ja schon der simple Zufall für mehr Fehler, weil es nun am Wortende 3 statt 2 Möglichkeiten gibt.
Zwar wird nun bald fast jeder sich auf die Software verlassen, aber die Varianten! Die sind nicht handhabbar. Dank Software könnten wir, tragische Ironie, heute eine viel bessere Einheitlichkeit haben, hätte man keine Reform gemacht.
Das ist alles nicht neu. Man sollte lieber verbreiten, Leute: kauft keinen Duden und keinen Bertelsmann, PC mit Korrekturprogramm genügt, es muß aber nicht das teure aus Mannheim sein. Und dann die alte Rechtschreibung einschalten, die Ergebnisse sind besser.




Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.06.2006 um 15.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4166

Wenn die jetzigen Bestrebungen lediglich auf eine Wiederherstellung des alten Zustandes hinauslaufen, waren das für sie und die gesamte deutsche Schreibgemeinschaft im doppelten Sinne zehn verlorene Jahre.

Die Sache mit den tatsächlichen und den gefühlten Investitionen. Sie sind ein Grund dafür, warum Menschen sich so schwer damit tun, unsinnige Projekte rechtzeitig abzubrechen. Eine Frau hat sich auf einen Mann eingelassen, mit dem sie eine anstrengende, ungute Beziehung erlebt. Von Anfang an Krisen, Unzufriedenheit, tägliche Probleme. Ja, von Anfang an mußte die Beziehung einer Paartherapie unterzogen werden, damit man es miteinander aushält. Mühsam wurden so ein paar der gröbsten Probleme gelöst. Warum bricht die Frau die Beziehung nicht einfach ab? Nach einem Jahr sagt sie sich: "Ich kann doch die Beziehung nicht einfach abbrechen, sonst wäre es ja ein ganzes verlorenes Jahr gewesen." Nach zwei Jahren sagt sie sich: "Ich kann doch die Beziehung nicht einfach abbrechen, sonst wäre es ja zwei verlorene Jahre gewesen." Nach drei Jahren sagt sie sich: "Ich kann doch die Beziehung nicht einfach abbrechen, sonst wäre es ja drei verlorene Jahre gewesen." Je länger die schlechte Beziehung dauert, desto unmöglicher wird es der Frau, sie zu beenden, weil sie immer nur auf ihre Investitionen schielt.

Kluge Menschen messen die Investitionen daran, ob sie sich auszahlen, insbesondere langfristig. Ängstliche Menschen halten an allem fest, wofür sie etwas investiert haben. Je höher die Investitionen, desto unmöglicher wird es ihnen, sich die Vergeblichkeit einzugestehen. Das spielt zum Beispiel auch eine Rolle auf den Aktienmärkten.


Kommentar von Augias, verfaßt am 06.06.2006 um 15.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4165

Werter Herr Jochems,

Sie schreiben: Für die allgemeine Verbreitung müßte Ihr Wörterbuch ohnehin etwas überarbeitet werden, und dann könnten unter neuer Zielstellung noch etliche weitere Entkrampfungen vorgenommen werden.

Haben Sie vielleicht eine Idee, wie diese Überarbeitung schnell und straff durchgeführt werden könnte, bzw. sehen Sie ein anderes, geeigneteres Wörterbuch, das für eine "allgemeine Verbreitung" schon jetzt geeigneter wäre? Wie könnte es kurzfristig "allgemein verbreitet" werden? Was können Sie dazu beitragen?



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.06.2006 um 14.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4164

Lieber Herr Ickler, "respektvoll" - wie Koll. Ludwig das uns beiden attestiert - möchte ich einigen Ihrer Feststellungen widersprechen. Das Grundsätzliche vorweg: Auch in der Schweiz ist das Anliegen der "Schweizer Orthographischen Konferenz" mißverstanden worden. Die Zeitungen verbreiteten bei ihrer redaktionell überarbeiteten Wiedergabe des Communiqués der SOK die Sicht, es handele sich bei der geplanten Schweizer "Reform der Reform" um eine Rechtschreibung für jedermann. Man kann es nicht laut genug sagen, daß dieser Eindruck falsch ist. In Wirklichkeit geht es wie vor 1915 im Buchdrucker-Duden um eine einheitliche Norm für das graphische Gewerbe. Ihre Untersuchungen an den journalistischen Texten der Jahre vor 1996 haben bekanntlich ergeben, daß damals selbst in den überregionalen Zeitungen Abweichungen von der einheitlichen Dudennorm gang und gäbe waren. Sie haben daraus den Schluß gezogen, hier handele es sich um ebenfalls übliche Schreibungen, keinesfalls also um Fehler. Ihr Wörterbuch ist deshalb in den beiden komplizierten Sonderbereichen der deutschen Rechtschreibung reich an Varianten. Sie raten jedermann, von dieser Liberalität Gebrauch zu machen. Damit heben Sie Konrad Dudens fatale Entscheidung von 1915 auf, das allgemeine Wörterbuch und das Spezialwörterbuch der Buchdrucker zusammenzulegen. Gerhard Augst hat in der Anhörung vor dem Rechtsausschuß des Bundestags am 2. 7. 1997 erklärt, dies sei das eigentliche Anliegen der Reformer. Wäre dem so, würden ihm die dankbaren Deutschen Kränze winden. Was wir ihm heute vorwerfen, ist die spinnerte Verhunzung der deutschen Rechtschreibung, die den Wirrwarr perfekt machte. Die gilt es aufzuheben, aber nicht im Rückfall auf die Fehlentscheidung von 1915, mit der die deutsche Rechtschreibmalaise begann.

Ich besitze das dünne Heftchen, mit dem das Königlich Bayerische Staatsministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Jahre 1902 Regeln und Wörterverzeichnis der Berliner Orthographischen Konferenz an den Schulen einführte. Über die Groß- und Kleinschreibung finde ich dort wenig, über die Getrennt- und Zusammenschreibung nichts. Wo es keine Norm gibt, kann man sie nicht verfehlen. So sieht eine freiheitliche Rechtschreibung für jedermann aus: der Grundbestand an Einzelwortschreibungen ist obligatorisch, alles andere ist fakultativ. Dem entspricht Ihr Wörterbuch. Wenn es am 1. August 2006 amtlich als Schul- und Familienwörterbuch eingeführt würde, wären die deutschen Rechtschreibprobleme (fast) vom Tisch. Dann könnten die SOK und die Dudenredaktion ruhig ihre Einheitswörterbücher bzw. -programme für Verlage, Nachrichtenagenturen und Zeitungsredaktionen entwickeln, die Schreibgemeinschaft wäre davon nicht betroffen.

Diese Lösung würde jedoch unter den Kritikern der Rechtschreibreform ein sehr geteiltes Echo finden. Vielleicht lasse ich meinen fleißigen Computer einmal auszählen, wie oft auf "Schrift und Rede" das Loblied auf Norm und Einheitlichkeit gesungen worden ist. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich der einzige, der fleißig in Normale deutsche Rechtschreibung liest: Hohn sprechen und hohnsprechen, doch auch hier sprichst Hohn oder hohn; bereit: als Verbzusatz auch zusammengeschrieben: bereit_halten; aus dem vollen oder Vollen schöpfen, jung und alt auch Großschreibung möglich Jung und Alt usw. usw. - ein Graus für jeden Normfetischisten, aber so war/ist es üblich. Bei Recht haben usw. sind Sie nicht so liberal, und bei Rechtens sein fügen Sie wenigstens hinzu, daß man nur in der Fachsprache der Juristen so schreibt. Für die allgemeine Verbreitung müßte Ihr Wörterbuch ohnehin etwas überarbeitet werden, und dann könnten unter neuer Zielstellung noch etliche weitere Entkrampfungen vorgenommen werden.

Daß in der Schweiz und auch hierzulande daran gearbeitet wird, die Rechtschreibreform weiter zu demontieren, sollte uns also nur mit verhaltener Freude erfüllen. Es geht ja nicht darum, arroganten Kultusbürokraten eine Niederlage zu bereiten. Die Deutschschreibenden haben einen Anspruch darauf, endlich eine handhabbare Rechtschreibung zu bekommen, wie sie anderswo selbstverständlich ist.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.06.2006 um 11.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4163

Es bleibt festzuhalten: Nicht Qualitätsmängel der traditionellen Rechtschreibung waren der Auslöser der Reform und das treibende Motiv ihrer Initiatoren. Es gab auch keinen öffentlich diskutierten Notstand, der einen Eingriff als unumgänglich hätte erscheinen lassen. (Hätte man eine Meinungsumfrage über drängende Probleme gemacht, so wäre die Rechtschreibung ganz gewiß nicht genannt worden. Ein Bundestagsabgeordneter hat so ähnlich auch aus seinem Wahlkreis zu berichten gewußt). Vielmehr beschäftigte sich eine in ihrer Zuammensetzung wechselnde kleine Gruppe von Sprachwissenschaftlern jahrzehntelang mit orthographischen Fragen im Sinne einer Revision. So etwas hatte es im Laufe der Zeit schon immer gegeben. Zum öffentlich wahrgenommenen Problem wurd die deutsche Orthographie in dem Augenblick, da es einem kleinen Kreis von Sprachwissenschaftlern und Didaktikern gelang, die Staatsmacht für sich und seine Ziele zu gewinnen. Es trafen sich auf verhängnisvolle Weise zwei Grundirrtümer bzw. verengte Auffassungen von Sinn und Zweck, man kann auch sagen: Wesen, einer Rechtschreibung. Die Refomer sahen in ihr ein "von Menschen gemachtes" mehr oder weniger willkürlich geschaffenes und jederzeit veränderbares Produkt, etwas rein Äußerliches, etwa vergleichbar der Straßenverkehrsordnung. Die Kultusminister können Orthographie nicht anders denn als Unterrichtsgegenstand denken. Daß keines der angestreben Ziele erreicht wurde, beweist die Fehlerhaftigkeit des Ansatzes. Nicht gewollt, aber durchaus vorhersehbar bleibt ein schwer beschädigtes, zuvor funktionierendes System auf der Strecke. Da kommt es nicht auf Prozente an, es geht immer um Qualität, nicht Quantität. Dies zeigt sich an den geradezu epidemieartig zunehmenden "Übergeneralisierungen", die nicht etwa zu einer neuen Einheitlichkeit führen. Nicht Demokratie, sondern Anarchie ist zur Zeit das Merkmal der deutschen Orthographie.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.06.2006 um 10.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4162

Mir scheint, daß hier kleine Mißverständnisse zu "Problemen" geführt haben, die keine sind. Ebenso wie Herr Jochems gehöre ich zu denen, die sich zehn Jahre und mehr um die Rechtschreibung ernsthafte Gedanken gemacht haben. Ich habe aber nicht das Gefühl, daß die Schweizer etwas beschlossen haben, was diesen Bemühungen sozusagen in den Rücken fällt und wodurch ich mich desavouiert sehen könnte, im Gegenteil. Auf die Gefahr hin, pedantisch zu erscheinen, möchte ich doch noch einmal auf den Unterschied zwischen der alten Dudennorm und den "vor 1996 üblichen Schreibungen" (wie Herr Jochems selbst so treffend sagt) hinweisen. Die Schweizer wollen zu diesen Schreibungen zurück, nicht zum alten Duden. Was ist daran kritikwürdig? Auch können die "vor 1996 üblichen Schreibungen" nicht pedantisch gewesen sein, das waren nur die alten Dudenregeln. Allerdings wurden sie schon lange nicht mehr in dem Maße repressiv eingesetzt, wie es vielleicht früher einmal der Fall gewesen war. Mir ist nicht bekannt, daß irgendeine Haarspalterei des alten Duden zu Nachteilen für Schüler geführt hätten. Es ging und geht bei der Schulrechtschreibung immer um ganz zentrale Fehler, die bei weitem die notenrelevante Hauptmasse ausmachen.
Und dann noch etwas: Vorrangiges Ziel unseres langen Kampfes war doch wohl das Ende der Reform. Diese ist für die "Probleme" der Gegenwart verantwortlich, nicht die eine oder ander Macke des alten Duden. Es gab eigentlich keinen dringenden Handlungsbedarf, denn ein Auskämmen des pedantischen alten Duden wäre zwar jederzeit willkommen gewesen, aber die meisten Menschen hat der Zustand dieses Buches nicht berührt.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.06.2006 um 10.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=472#4160

[Korrigiere Fassung]

Nun lichtet sich der Nebel ein wenig. Die Gründung des Vereins Schweizer Orthographische Konferenz geht auf eine Initiative des Vereins Sprachkreis Deutsch zurück. An der ersten Zusammenkunft nahm Prof. Munske teil und hielt eines der Grundsatzreferate. Vielleicht wäre er ja bereit, seinen Text auf dieser Webseite zu veröffentlichen. Ähnlich wie den deutschen geht es den Schweizer Publizisten zunächst um eine einheitliche, variantenfreie Reformrechtschreibung. Eine noch einzusetzende Arbeitsgruppe wird sich aber "ausserdem mit den Bereichen befassen, wo herkömmliche Varianten noch nicht wieder zugelassen sind." Hier deutet sich an, daß der passive Widerstand der Gruppe auch offensiv werden könnte. Das sollte man jedoch nicht mißverstehen. Immer geht es um die Reetablierung der vor 1996 üblichen Schreibungen. Im übrigen gab es auch Stimmen, "die zur Zurückhaltung mit eigenen Regeln und Wortlisten gemahnten." (Hans Fahrländer, MZ)

Wie kommen bei alledem diejenigen weg, die sich seit 1996 aus traurigem Anlaß intensiv mit den Problemen der deutschen Rechtschreibung befaßt haben? Wenn die jetzigen Bestrebungen lediglich auf eine Wiederherstellung des alten Zustandes hinauslaufen, waren das für sie und die gesamte deutsche Schreibgemeinschaft im doppelten Sinne zehn verlorene Jahre. Die Reformer um Gerhard Augst haben die Deutschsprachigen um die Hoffnung betrogen, endlich in den Genuß einer unpedantischen und von allen Schreibern beherrschbaren Rechtschreibung zu kommen. Auf den Trümmern einer Rechtschreibreform läßt sich natürlich schlecht eine neue machen. Wer sich aber an der Lösung der gegenwärtigen orthographischen Probleme versucht, sollte das mit etwas mehr Fingerspitzengefühl tun.



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