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26.09.2005
Sprache und Nationalismus
Ein Beitrag zum europäischen Tag der Sprache
Unter Linguisten herrscht kein Konsens darüber, wie die Definition einer Sprache lautet. Denn eine Sprache ist vor allem ein politisches Phänomen.
Für diese nicht mehr ganz frische These bringt der Slawist Tomasz Kamusella aus Oppeln eine Reihe von Beispielen aus der jüngeren Geschichte. Interessant an seinem vom ORF gesendeten Beitrag sind die eingestreuten Hinweise auf weitere im Netz verfügbare Literatur.
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 27.09.2005 um 12.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=343#1868
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Redet man heute von einer Sprache, so meint man stillschweigend eine geschriebene Sprache, die durch Wörterbücher, Grammatiken und den Gebrauch dieser Sprache in Administration und Bildung standardisiert ist. Solche Sprachen entstanden notwendigerweise in Machtzentren (etwa Hauptstädten), in denen Eliten diese sprachen und schrieben sowie darüber hinaus beträchtliche Anstrengungen unternahmen, um sie zu standardisieren und unter der im jeweiligen Staatsgebiet lebenden Bevölkerung zu verbreiten. Der moderne Staat alleine (laut Eigendefinition ein Nationalstaat) war in der Lage, dieses Programm zur Standardisierung einer Sprache durchzuführen und diese zur offiziellen Sprache des Gemeinwesens zu machen, die der gesamten Bürgerschaft vertraut war. Tomasz Kamusella
Ganz offensichtlich sind diese Thesen des polnischen Sprachwissenschaftlers für die deutsche Sprache unzutreffend. Vor 1871 besaß Deutschland kein "Machtzentrum"; wohl gab es eines im deutschen Sprachgebiet, das aber keineswegs standardisierend wirkte. Aus einer provinziellen Kanzleisprache ging bei uns dank eines einzigen Buches (dazu noch einer Übersetzung) ein unseren feudalen Flickenteppich sprachlich und kulturell vereinigendes Idiom hervor, das die vorher untereinander unverständlichen Regionalsprachen ins zweite Glied verwies. Die neue Einheitssprache war auch ohne Standardisierung voll funktionstüchtig und ermöglichte vor allem das Entstehen einer großen Literatur, die ihrerseits den Angehörigen der durch sie sich herausbildenden Kulturgemeinschaft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelte. Diesem natürlich gewachsenen Gebilde wurde im 19. Jahrhundert der engstirnige Nationalismus übergestülpt. Sprachliche Konsequenzen waren die Germanisierung des europäischen Bildungswortschatzes ("konzedieren" statt "concediren") und die Beseitigung der verbliebenen orthographischen Regionalismen in der geschriebenen Sprache. Jetzt erst wurden "Administration und Bildung" die Zentren der Standardisierung. Daß auch in diesem Punkte die angeblich aus "zwischenstaatlichen" Rücksichtnahmen erwachsene Neuregelung von 1996 an die Tradition des sprachlichen Nationalismus anknüpft, gehört zu ihren Paradoxien. Das "Zentrum" wird gerade stillschweigend durch die entsprechenden angelsächsischen Wörter ersetzt, der "Computer" erst gar nicht vereinnahmt. Insgesamt ist die Germanisierung unseres Anteils am gemeineuropäischen Wortschatz und unsere Abkehr von anderen Gepflogenheiten unserer Nachbarsprachen aber nicht mehr aufzuheben. Die Großschreibung der Substantive und die Zusammenschreibung der Univerbierungen sowie das differenzierende Spiel mit diesen Besonderheiten würden auch dann bleiben, wenn wir uns ganz von der Verstaatlichung der Schriftform unserer Sprache lösen könnten. Viel wäre schon erreicht, wenn wie einst von der Literatur und nicht von Sprachenämtern die Vorbildfunktion für unsere Sprache ausginge.
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Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 28.09.2005 um 17.17 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=343#1887
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Max Weinreich wird das Bonmot zugeschrieben, eine Sprache sei ein Dialekt mit einer Armee und Marine.
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Kommentar von Jörg Metes, verfaßt am 13.10.2005 um 23.26 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=343#2015
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Helmut Jochems: Ganz offensichtlich sind diese Thesen des polnischen Sprachwissenschaftlers für die deutsche Sprache unzutreffend. Vor 1871 besaß Deutschland kein "Machtzentrum"; wohl gab es eines im deutschen Sprachgebiet, das aber keineswegs standardisierend wirkte.
Folgt man freilich dem Historiker Winfried Schulze, dann waren es sogar zwei Machtzentren, die im 15. und 16. Jahrhundert »die Herausbildung einer neuen deutschen Hochsprache« betrieben und bewirkt haben: die Kanzlei des Kaisers und die sächsische Kanzlei. »In einem komplizierten Verschmelzungsprozeß näherten sich die Ergebnisse der beiden erwähnten Kanzleien aneinander an und ermöglichten so eine einheitliche deutsche Sprache, wie sie dann vor allem von Luthers Schriften propagiert wurden« (Winfried Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1987, S. 71).
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