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31.10.2006
Die Versöhnung
Zehetmairs Geleitwort zur Buchausgabe der Neuregelung (Tübingen: Narr 2006)
Geleitwort
Am 1. August tritt die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung mit den vom Rat für deutsche Rechtschreibung vorgeschlagenen Änderungen in Kraft, die in die vorligende Textausgabe des amtlichen Regelwerks eingearbeitet sind.
Der Rat für deutsche Rechtschreibung wurde im Dezember 2004 von den zuständigen staatlichen Stellen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein eingesetzt. Seine Hauptaufgabe bestand zunächst darin, auf der Basis des amtlichen Regelwerks 2004 eine konsensuelle Lösung zu entwickeln, die den Interessen sowohl der Schulen wie auch der professionell Schreibenden Rechnung trägt. Er hat dazu in schwierigen und arbeitsintensiven Beratungen innerhalb eines Jahres Änderungsvorschläge in den Bereichen Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung, Worttrennung am Zeilenende sowie Groß- und Kleinschreibung erarbeitet, die durch ihre Ausrichtung am Schreibgebrauch die Voraussetzung dafür schaffen, die Lesenden und Schreibenden mit der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu versöhnen und somit die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung zu bewahren.
Mit dem jetzt vorliegenden Regelwerk ist ein Status erreicht, der Sicherheit und Verlässlichkeit bietet. Der Rat für deutsche Rechtschreibung wird auch in Zukunft für die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung eintreten und durch Beobachtung des Schreibgebrauchs sicherstellen, dass der allgemeine Sprachwandel angemessen im Regelwerk Berücksichtigung findet.
München, im Juli 2006
Dr. h. c. mult. Hans Zehetmair
Staatsminister a. D.
Vorsitzender des Rats für deutsche Rechtschreibung
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Kommentar von jms, verfaßt am 01.11.2006 um 15.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=699#6614
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Der Begriff "Schreibgebrauch" ist kritisch zu hinterfragen. Durch die Rechtschreibreform ist massiv in den bis dato üblichen Schreibgebrauch eingegriffen worden. Die Folgen heute: keine einheitliche Rechtschreibung mehr, sondern einerseits verschiedenste Ausprägungen der vermeintlichen Reformorthographie, andererseits weiterhin die bewährte bzw. klassische Rechtschreibung. Außerdem zeigt sich ein starker Trend zur allgemeinen orthographischen Verwahrlosung.
Fazit: Es gibt heute nicht mehr den Schreibgebrauch, sondern verschiedene Schreibgebräuche. Woran aber richtet sich die Neuregelung aus? Doch hauptsächlich an den Interessen der für das Desaster verantwortlichen Politiker.
Zur Reformschreibung kann man konstatieren, daß ihr Gebrauch nur durch Verordnung und nur mit Abstrichen durchzusetzen war, weil sie tatsächlich nicht gebraucht und nur aus Gesichtswahrungsgründen nicht gleich wieder abgeschafft wurde. Irgendeinen tatsächlichen Gebrauchswert für Leser – denen eine vernünftige Orthographie letzlich dienen sollte – hatte sie nie, im Gegenteil.
Durch Zehetmairs Reparaturarbeiten hat sich daran nicht viel gebessert. Sein Lamento von Versöhnung und Bewahrung dient nur der Beschwichtigung. Einem Gebrauchtwagenhändler kann man mehr vertrauen.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.11.2006 um 06.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=699#6612
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Immer wieder spricht Zehetmair davon, daß die Empfehlungen des Rechtschreibrates sich am Schreibgebrauch orientieren. Der Rat hat sich aber niemals mit der Beobachtung des Schreibgebrauchs beschäftigt. Die Wiedereinführung gewisser Zusammenschreibungen war überfällig, aber nicht wegen des Schreibgebrauchs. Man braucht sich ja nur die neu eingeführten Zusammenschreibungen wie "Blumen sprechenlassen", "bis du schwarzwirst" und dgl. anzusehen: das sind reine Kopfgeburten ohne Rückhalt im Usus. Auch das ausdrückliche Beharren auf Kleinschreibungen wie "künstliche Intelligenz" zeugt von Wirklichkeitsfremdheit. (Sklavisch reformtreue Schreiber wie die Wikipedia-Leute behelfen sich, indem sie schnellstmöglich zur Abkürzung "KI" übergehen.)
Wer es nötig hat, die Öffentlichkeit so zu täuschen, wie es seit einem Jahr in sämtlichen Verlautbarungen des Ratsvorsitzenden geschieht, braucht sich nicht zu wundern, wenn man ihm nichts mehr abnimmt.
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 31.10.2006 um 19.38 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=699#6605
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Kein Wunder, daß sich die Ministerialen zurückhalten – könnte doch jede weitere Aktivität den endlich erreichten Rechtschreibfrieden gefährden.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2006 um 17.39 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=699#6604
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Bei Zehetmairs Geleitwort zur Buchausgabe 2006 muß man sich immer daran erinnern, daß Zehetmair die Umstände genau kennt: Er weiß, daß der Rat seine Arbeit vorzeitig beendet hat und die jetzige Fassung nur einen faulen Kompromiß darstellt. Die bürokratischen sprachlichen Eiertänze, die einem solchen Schöngeist unter normalen Umständen nie unterlaufen würden, lassen das schlechte Gewissen noch erkennen.
Zehetmair sagt über den Rechtsschreibrat: "Seine Hauptaufgabe bestand zunächst darin, auf der Basis des amtlichen Regelwerks 2004 eine konsensuelle Lösung zu entwickeln, die den Interessen sowohl der Schulen wie auch der professionell Schreibenden Rechnung trägt." Die Änderung der neuen Regeln im Sinne eines Kompromisses war zwar tatsächlich, aber nicht laut Statut die Aufgabe des Rates. Änderungen sieht das Statut nur als Anpassungen an den allgemeinen Sprachwandel vor. Solchen Wandel hat es seit 1996 bzw. seit der Revision 2004 nicht gegeben, und der Rat hat sich auch niemals mit der Beobachtung des Sprachwandels oder auch nur der Feststellung des Schreibgebrauchs beschäftigt, den Zehetmair im folgenden als Maßstab der Änderungsvorschläge erwähnt.
Daß der Rechtschreibrat tatsächlich die Reparatur der auch nach 2004 immer noch sehr fehlerhaften Neuregelung zur Aufgabe hatte, wurde von den Politikern niemals klar gesagt. Schon zur Einsetzung von Kommission und Beirat gab es falsche Aussagen: Minister Kauffold ließ 1999 mitteilen: "Nicht alles konnte dabei zur Zufriedenheit aller gelöst werden. Deshalb (!) stellte die Kultusministerkonferenz die Kommission für Deutsche Rechtschreibung als wissenschaftsbegleitendes Gremium dem Prozess zur Stelle." Abgesehen von der sonderbaren Ausdrucksweise: die Zwischenstaatliche Kommission war von Anfang an vorgesehen (s. Absichtserklärung) und sollte die Einführung der Neuregelung kommentierend begleiten, war aber dann zu ihrer eigenen Überraschung bis zu ihrer Auflösung mit nichts anderem als (vergeblichen) Reparaturarbeiten am eigenen Werk beschäftigt.
Der Klimawandel ist bemerkenswert: Während sich zu Zeiten des Internationalen Arbeitskreises die Ministerialräte noch um alle Einzelheiten der Reformpläne kümmerten und sich ständig einmischten, ist ihnen jetzt alles recht. Die Vorschläge des Rechtschreibrates haben sich die Ministerien gar nicht mehr ansehen wollen, sondern sie pauschal durchgewinkt. Wie anders in den frühen neunziger Jahren! Da vertiefte sich ein bayerischer Ministerialrat Krimm noch sehr eifrig in jeden einzelnen Vorschlag, sprach sich gegen "Gämse" aus usw. Jetzt kennen sie alle nur noch ein Motto: "Nichts wie weg!"
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