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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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19.10.2017
 

Textlinguistik
Warum konnte die "Textlinguistik" die Erwartungen nicht erfüllen?

Texte sind nicht einfach die nächsthöheren Formen oberhalb von Sätzen. Sie fallen größtenteils ins Gebiet von Stilistik und Philologie.
Eine Textgrammatik im eigentlichen Sinn kann es nicht geben, weil die Aufeinanderfolge von Sätzen nicht durch Regeln bestimmt ist, die mit den syntaktischen vergleichbar wären. Es gibt einerseits Erwartungen, was die wahrscheinlichste Fortsetzung der Rede betrifft, andererseits Rückverweise auf schon Gesagtes, d. h. dem Hörer bereits Bekanntes. Dazu dienen einerseits die anaphorischen Mittel, andererseits die Verwendung thematisch verwandter Wörter. Dem Sprecher steht es aber frei, davon mehr oder weniger Gebrauch zu machen. Er kann es grundsätzlich auch dem Hörer überlassen, den Zusammenhang herzustellen. Daraus ergeben sich stilistische Unterschiede zwischen den Texten.
Beispiel für formale Kennzeichnung (Anaphorik) – die Verweismittel in Versalien:

Viele Fragen der Quantenmechanik sind nur mit einem Computer zu beantworten. DENNOCH können selbst mit größtem Rechenaufwand keine exakten Lösungen gefunden werden. DIES wäre INDES mit einem sogenannten Quantencomputer möglich, der ZUDEM eine erheblich höhere Rechenleistung besäße. Die Grundlage SOLCHER Rechner bilden NÄMLICH logische Bausteine, die ihrerseits aus kleinen quantenmechanischen Systemen bestehen und deshalb die physikalische Realität präzise spiegeln. DIES ist zwar seit längerer Zeit bekannt, die experimentelle Umsetzung gelang bisher jedoch nicht. Mehrere Forschergruppen sind DIESEM Ziel nun einen großen Schritt näher gekommen. SIE konnten ein einfaches Bauelement entwickeln, das bei Berechnungen den Regeln der Quantenmechanik folgt.

Man könnte den komplexen Satz Dies ist zwar seit längerer Zeit bekannt, die experimentelle Umsetzung gelang bisher jedoch nicht auch als zwei Sätze auffassen; dann würde im ersten durch ZWAR eine Erwartung geweckt und durch JEDOCH im zweiten Satz erfüllt.



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Kommentare zu »Textlinguistik«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.02.2022 um 05.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1660#48437

Jeder hat bestimmte Gewohnheiten, die wenigstens zum Teil zufällig entstanden sind, sich dann aber verfestigt haben. Wenn ich die Finger oder die Arme verschränke, tue ich es immer auf die gleiche Art (bei den Fingern wie meine Frau, bei den Armen umgekehrt). Alles andere käme mir irgendwie verkehrt vor. Beim Rasieren führe ich den Hobel immer in der gleichen Reihenfolge über die Wangen, ebenso berichten es viele vom Zähneputzen. Wenn ich mich auf eine Bank setze, lege ich gern den rechten Arm auf die Lehne – das ist mir gestern erst aufgefallen.

Diese Unterschiede haben keine Funktion, sie bilden den „Stil“. „Funktionalstil“ ist ein hölzernes Eisen. Wenn damit Fachsprachen und dgl. gemeint sind, ist klar, daß sie sich funktional von der Allgemeinsprache unterscheiden und nicht stilistisch. Untereinander und nach Autoren können sie stilistische Merkmale haben. Eine Fachsprache ist aber keine stilistische Variante der Allgemeinsprache.

Es gibt auch Nationalstile, was ich gern an der altindischen „Nationalgrammatik“ im Gegensatz zur griechisch dominierten Grammatik des Abendlandes erläutere. Dabei muß man allerdings von der unterschiedlichen gesellschaftlichen Einbettung abstrahieren zugunsten eines identischen funktionalen Kerns. Die indische Grammatik ist ein letzter Ausläufer („Anhang“, vedanga) der vedischen Ritualliteratur, die alexandrinische Philologie stammt aus der Homer-Erklärung, ist aber längst verselbständigt. Die „Sache selbst“, also die Gesetzmäßigkeit von Phonologie und Morphologie, teils auch der Syntax, hat gewissermaßen Panini ebenso gepackt wie Dionysios und Apollonios. Dieser gemeinsame Kern macht den Vergleich überhaupt erst möglich, und so stellen wir fest, daß Grammatik in sehr verschiedenen Nationalstilen betrieben werden kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.10.2017 um 08.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1660#36757

Man kann Texte danach unterscheiden, in welchem Umfang sie das logische Verhältnis zwischen aufeinanderfolgenden Sätzen formal – durch „Konnektoren“ – kennzeichnen oder es dem Hörer überlassen, ein solches Verhältnis herzustellen. Dabei helfen, wie gesagt, semantische "Isotopien". Die Aufforderung dazu kann, außer durch die Nebeneinanderstellung selbst, auch durch die Intonation ausgedrückt werden.

In der Mathematik und Logik sind solche Verknüpfungen nicht üblich. In mathematischen Herleitungen ist der Zusammenhang durch Ersetzungsoperationen („Einsetzen“, Substitution, Rewrite) gewährleistet. Die Aufforderung dazu wird im allgemeinen nicht eigens ausgesprochen. Man weiß konventionell, was zu tun ist: eine Formel durch Substitution (leichter) berechenbar machen.

Fachtexte konvergieren insgeheim auf dieses Ideal hin.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.10.2017 um 13.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1660#36680

Die bekanntesten "Textgrammatiken" sind wohl die des Französischen und der Deutschen, die Harald Weinrich vorgelegt hat. Sie "verweigern", wie er sagt, dem Satzbegriff "jeden besonderen Respekt". Das ist aber nur scheinbar so, denn in Wirklichkeit gehen sie von der Valenz des finiten Verbs aus, sind also implizit doch satzorientiert. Das zeigt sich auch an anderen Punkten. Die Satzgrenze wäre mit Vorteil bei der Erklärung der Pronomina heranzuziehen, und ein eigentlicher Satzglied-Begriff fehlt auch, was sich meiner Ansicht nach nicht günstig auswirkt.
 
 

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