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Beiträge zum Thema

»Reformitis
Reformsucht als politische Ideologie«

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Dieser Beitrag wurde am 13.03.2009 um 18.47 Uhr eingetragen.
Adresse: http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=227#4732


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.03.2009 um 09.44 Uhr

In seiner "Theorie der Unbildung" sagt Liessmann kurz vor der erwähnten Stelle, die von der Rechtschreibreform handelt:

"Noch der grimmigste Kritiker einer rezenten Reform kann mit der einfachen Frage zum Verstummen gebracht werden, ob er denn zu dem endlich Überwundenen 'zurück' wolle. Wie schlimm, unsinnig, chaotisch sich gegenwärtige Zustände auch darbieten mögen: es führt , wie die gängige Formel lautet, ganz sicher kein Weg zurück.“ (161f.)

Ziemlich treffend, nicht wahr?


Kommentar von Pt, verfaßt am 09.03.2009 um 16.54 Uhr

Zum Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 08.03.2009 um 06.45 Uhr

''Daß Reformer das Chaos wollen, kann ich aus meiner Sicht nicht bestätigen.
Bestünde im Chaos das erklärte Ziel von Reformen, dann wäre es ein einfaches, ihnen Einhalt zu gebieten.''

Ich denke nicht, daß es darum geht, ob die Reformer das Chaos wollten oder nicht. Wer will schon das Chaos, und gibt es das überhaupt? Wenn jemand unlautere oder eigennützige Absichten hat, wird er das den anderen nicht offen erklären. Aber selbst wenn sie das täten, so muß es deshalb noch lange nicht einfach sein, diesen Leuten Einhalt zu gebieten. Sonst hätte es einfach sein müssen, dem zweiten Weltkrieg Einhalt zu gebieten, was bekanntlich die Deutschen nicht geschafft haben.

Die Reformer sind größtenteils Professoren, und als solche müssen sie sich berufsbedingt darüber im klaren, daß ihr Handeln unabsehbare Folgen haben kann. Für diese Erkenntnis braucht es keinen Professorentitel, es genügt dafür die ganz normale Alltagserfahrung!

''Nicht Zerstörungslust, sondern Kurzsichtigkeit, Halbwissen und fehlende Ehrfurcht vor allem Gewachsenen kennzeichnen die reformbeschwingte, geltungssüchtige Natur des modernen Menschen.''

Bei der Rechtschreibreform geht es schließlich darum, einer ganzen Sprachgemeinschaft eine neue Schreibweise aufzudrücken, Kurzsichtigkeit würde da nicht zum ''Erfolg'' führen.

Die Reformer sind größtenteils Professoren, und bei solchen kann man davon ausgehen, daß sicher kein Halbwissen vorliegt, sondern vertiefte Kenntnis des jeweiligen Fachgebiets. Das ist es ja gerade, was einen Professor ausmacht. Wo sonst würde man vertiefte Kenntnis eines Fachgebiets suchen, wenn nicht bei einem Professor!

Ich glaube auch nicht, daß Zerstörungslust hinter der Reform steckt, sondern ein genau umrissenes gesellschaftspolitisches Kalkül, weswegen Gedankenlosigkeit sicher nicht involviert sein dürfte. Ich würde gerne hier darüber diskutieren, aber leider scheint dies hier ein Tabuthema zu sein.

''Die verkürzte Sichtweise verleitet dazu, sich über die evolutionäre Ordnung zu setzen und deren Gesetze 'verbessern' zu wollen.''

Nun ja, bei der Evolution spielt auch das Glück bzw. Unglück eine entscheidende Rolle! Hätte es nicht diverse Naturkatastrophen gegeben, würde es uns heute gar nicht geben.

''Der moderne Mensch ist blind für Kausalitäten.''

Dies trifft wohl eher für die Menschen des Mittelalters zu, die von der Kirche in blindem Glauben gehalten wurden und die, wenn sie Kausalitäten zu ergründen suchten, mit Verfolgung und grausamstem Tod bestraft wurden.

''Voraussetzungen werden mit Folgen verwechselt, das Ziel mit dem Weg.''

Nun ja, für manche Menschen ist der Weg das Ziel, und diese Sichtweise ist vielleicht gar nicht so falsch.

''Da glaubt man, das Vorhandene und Überlieferte ignorieren zu müssen und tritt alle Praxis und Erfahrungsphilosophie mit Füßen.''

Das mag wohl für die Rechtschreibung und einiges andere zutreffen, aber generell ist das Vorhandene und Überlieferte immer einem Revisionsprozeß ausgesetzt. Wäre dem nicht so, gäbe es keinen Fortschritt. Das Problem mit der Reform ist es ja, daß das Beste und Zukunftsweisende an der klassischen Rechtschreibung ausgerottet und Überkommenes aus längst vergangenen Jahrhunderten wieder verbindlich gemacht wird.

''Da weigert man sich, die Realität anzuerkennen und sieht Probleme niemals bei sich selbst, sondern immer bei noch zu wenigen und zu wenig intensiven 'Reformen'. Das ist nicht Bosheit oder Aggression, sondern schiere Dummheit.''

Oder schlicht und einfach ein ausgeklügeltes gesellschaftspolitisches Kalkül!

''... daß der Wohlstand ursächlich an dieser Entwicklung beteiligt sein könnte mitsamt der Tatsache, daß Menschen den Produktionsprozeß nur noch aus einem schmalen Blickwinkel erleben.''

Nun ja, Sie können ja gerne wie vor 500 Jahren leben.

Nicht jeder in diesem Lande lebt im ''Wohlstand''!

Jeder Mensch sieht die Welt und damit auch irgendwelche Produktionsprozesse (wobei ich nicht verstehe, was das mit der Rechtschreibreform zu tun haben soll) naturgemäß nur aus einen ''schmalen Blickwinkel'', niemand kann wirklich das Ganze übersehen oder gar vollständig verstehen.

Was mich an Ihrem Eintrag so stört, Frau Pfeiffer-Stolz, ist, daß Sie verallgemeinernd vom ''modernen Menschen'' sprechen, dem Sie diverse negative Dinge vorwerfen bzw. unterstellen, so als ob dies für alle Menschen generell zutrifft. Die meisten der hier Mitlesenden dürften sich selbst als ''moderne Menschen'' ansehen. Dabei meinen Sie offenbar nur die mit der Durchsetzung der Reform befaßten Menschen. Warum schreiben Sie das nicht? Warum beleidigen Sie alle, wenn Sie doch nur bestimmte Leute meinen?

''Die Arbeitsteilung hat der Menschheit zwar den großen, wunderbaren wirtschaftlichen Aufschwung beschert, doch zeigt sich auch die Negativbilanz, und zwar in einem Mangel an Erkenntnis der naturgegebenen Zusammenhänge.''

Ich denke nicht, daß ein solcher ''Mangel an Erkenntnis der naturgegebenen Zusammenhänge'' vorliegt. Zu keiner Zeit war die Erkenntnis naturgegebener Zusammenhänge so groß wie heute.

''Der Mensch verliert die Achtung vor der Schöpfung, weil er deren überwältigende Macht nicht mehr am eigenen Leibe verspürt.''

Dies ist religiös argumentiert und daher für eine seriöse Diskussion belanglos. Wenn, nach Ihrer Ansicht, der Mensch (wieder eine maximale Verallgemeinerung) die Achtung vor der Schöpfung verliert, dann muß er diese Achtung wohl vorher gehabt haben. Wenn man sich die Geschichte der Menschheit so ansieht, dann ist das wohl nicht der Fall gewesen. Ganz abgesehen davon verspürt jeder Mensch die ''überwältigende Macht der Schöpfung'' spätestens dann, wenn er krank wird, und diese Erfahrung wird wohl jeder schon einmal gemacht haben.

''Die Technik und die Arbeitsteilung verführen ihn zu einer Art Macht- und Größenwahn.''

Ich schaue seit Jahren kein Fernsehen mehr, aber selbst ich habe schon mitgekriegt, daß zur Zeit eine Finanzkrise herrscht. Und die Finanzen müssen stimmen, wenn es um Technik und Arbeitsteilung geht, denn das alles will ja auch bezahlt sein.

''Wo Demut angebracht wäre, breiten sich Hoffärtigkeit und Allmächtigkeitsgefühl aus.''

In meinem Beichtspiegel fand sich das Wort hoffärtig. Aber was es bedeutet weiß ich bis heute nicht. Es wurde auch nicht erklärt. So dürfte es vielen ergehen. Ich denke nicht, daß Demut angebracht ist, sondern kritisches Denken, gerade gegenüber Leuten, die Demut einfordern. Diese sind es, die an Macht- und Größenwahn leiden. Wir leben nicht mehr im Mittelalter!

''Im Glauben an ständigen Fortschritt setzen sie auf Veränderung und willkürliche Verbesserungsversuche ...''

Nun ja, da sie an Fortschritt glauben und nicht an Gott gehören sie ins Feindbildschema.

''Man möge das hier Gesagte nicht in die Schublade der 'Religion' werfen und sagen, dies sei überkommen: Religion ist letztlich die Weisheit der Vorfahren, mit der sie erkennen, daß das Leben letztlich nicht vom Menschen bestimmt werden kann und daß dieser gut daran tut, diese Tatsache anzuerkennen und sich nach ihr zu richten.''

Religion = Weisheit? Religion ist kollektiver Wahnsinn, der alle paar Jahrzehnte in kleinere oder größere Katastrophen ausartet: Verfolgung Andersgläubiger, Kreuzzüge, Hexenwahn, Pogrome, von den alltäglichen religiös bedingten Ängsten, die auch mir viele Jahre zu schaffen machten, mal ganz abgesehen.

Von wem soll das Leben denn sonst bestimmt werden, wenn nicht vom Menschen? (Gut, es gibt noch ein paar andere Einflußfaktoren, z. B. Krankeit, Glück oder Unglück, aber das trifft auch für Tiere und Pflanzen zu.) Religion dient höchsten dazu, zu verschleiern, daß das Leben der Menschen von anderen Menschen und deren perversen Ansichten und Machtansprüchen fremdbestimmt wird. Religion diente und dient dazu, Menschen besser beherrschbar zu machen.

''Dies ist auch die Wurzel für den Dekalog, dessen Aussagen in allen Religionen wiederkehren – nicht ohne Grund.''

Woher nehmen Sie die Sicherheit, daß die Aussagen (es sind doch eher Forderungen oder Befehle) des Dekalogs in allen Religionen wiederkehren? In Amerika gab es z. B. eine Religion (und gibt es wahrscheinlich noch, unter einer dünnen Decke an aufgesetztem Christentum), die ganz eindeutig gegen das 5 Gebot verstieß, indem sie Menschenopfer durchführte. (Dieses Gebot ist das dümmste und lächerlichste, was man sich vorstellen kann.) Auch im Judentum gab es Menschenopfer. Selbst der jüdische Gott wollte Abrahams Gehorsam testen, indem er verlangte, seinen Sohn zu opfern. Hier ziegt sich, worum es bei Religionen ein Wirklichkeit geht: Gehorsam! Es geht aber sicher nicht um Weisheit, auch wenn Weisheit manchmal vorgeschützt wird, um die Gehorsamsforderung zu verschleiern. Religionen haben viele Jahrtausende Zeit gehabt, ihr Manipulationsinstrumentarium zu optimieren.

''Und hier nun ist das Elend der Reformitis zu verorten: der Mensch glaubt, daß Reformen gut und wichtig sind.''

Wieder eine beleidigende Verallgemeinerung. Den meisten Menschen dürften Reformen, solange sie einen nicht selbst betreffen und Geld kosten, so ziemlich egal sein.

''Daß die Situation auf Erden entscheidend verbessert werden kann, wenn er, der Mensch, dies entscheidet.''

Jeder Mensch entscheidet tagtäglich, jeder wird letztendlich dazu gezwungen, tagtäglich über sein Leben zu entscheiden. Und jeder hofft, mit diesen Entscheidungen sein Leben oder seine Lebensumstände zu verbessern oder zumindest nicht zu verschlimmern.

''Daß man in die Zukunft schauen kann und meint, mit 'guten' Reformen den Massen weiterzuhelfen, weshalb man sie zu ihrem Glück zwingen müsse.''

Haben denn die Reformer einen Hellseher engagiert? Wer meint, andere zu ihrem Glück zwingen zu müssen, schadet den so Zwangsbeglückten. Dies hat jeder schon am eigenen Leibe erfahren (unsere Welt ist leider so), selbst die Reformer. Daher kann man den Reformern nicht Wohlmeinen unterstellen. Es gibt auch Leute, die gar kein Gewissen haben.

''Ihre Projekte kleiden sie in 'gute' Wörter, gegen die man nicht streiten kann. Wären sie doch einfach nur böse!''

Wenn es etwas gibt, was böse ist, wirklich böse, dann ist es genau das!

''Wir könnten uns dann gegen sie wehren.''

Wie wehrt man sich erfolgreich gegen das Böse?

''Fehlender Weitsicht aus der Zersplitterung und Expertisierung des Lebens erzeugt gefährliche historische Blindheit, Infantilisierung und religiöse Entwurzelung, woraus bei einigen Mitgliedern dieser Gesellschaft eine krankhafte Selbstüberschätzung erwachsen ist.''

Die Zersplitterung und Expertisierung des Lebens ist aber eine gesamtgesellschafliche Erscheinung, gegen die man sich kaum wehren kann. (Diese Expertisierung ist z. B. einer der Gründe, warum ich Psychologie prinzipiell ablehne.) Letztlich wähnen sich auch religiöse Menschen als Experten des Lebens, sie glauben ja an Gott, und wo sonst könnte die Wahrheit und die Weisheit des Lebens zu finden sein?

''Sie glauben sich berufen und fähig, etwas so Kompliziertes wie das Leben selbst punktuell verbessern zu können. Versuche in diese Richtung erleben wir ja ständig in allen gesellschaftlichen Belangen. ...''

Was ist daran falsch, SEIN Leben und seine Lebensumstände und die der anderen Menschen, so das möglich ist, zu verbessern zu suchen? Sie ziehen Schlüsse auch falschen Prämissen, Frau Pfeiffer-Stolz, deshalb kommen Sie zu seltsamen Schlußfolgerungen.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 08.03.2009 um 17.41 Uhr

@Frau Pfeiffer-Stolz
Die Mißachtung des natürlich Gewachsenen und die Anbetung des Künstlichen hat Christian Andersen im Märchen "Die Nachtigall" schön geschildert. So wie die künstliche Nachtigall wird auch die künstliche Rechtschreibung nicht auf Dauer funktionieren.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 08.03.2009 um 17.31 Uhr

Es handelt sich bei dem Buch lediglich um die Taschenbuchausgabe der gebundenen Ausgabe, die zuerst 2006 bei Zsolnay in Wien erschienen ist. Das Buch ist somit keine Neuerscheinung.

Das ist keine Herabwürdigung, sondern lediglich ein zusätzlicher Hinweis, der auch dem Impressum zu entnehmen ist.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 08.03.2009 um 06.45 Uhr

Daß Reformer das Chaos wollen, kann ich aus meiner Sicht nicht bestätigen. Bestünde im Chaos das erklärte Ziel von Reformen, dann wäre es ein einfaches, ihnen Einhalt zu gebieten.
Die Dinge liegen verzwickter. Nicht Zerstörungslust, sondern Kurzsichtigkeit, Halbwissen und fehlende Ehrfurcht vor allem Gewachsenen kennzeichnen die reformbeschwingte, geltungssüchtige Natur des modernen Menschen. Die verkürzte Sichtweise verleitet dazu, sich über die evolutionäre Ordnung zu setzen und deren Gesetze „verbessern“ zu wollen. So macht man heute gedankenlos und mit einem Handstreich Dinge kaputt, zu deren Entstehen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende nötig waren. In der Pädagogik ist das sehr gut zu beobachten, da wird inzwischen die Natur des Menschen, insbesondere die des Kindes, überhaupt nicht mehr in die curricularen und organisatorischen Überlegungen miteinbezogen. An dieser Stelle könnte ich seitenweise mit Beispielen fortfahren.

Der moderne Mensch ist blind für Kausalitäten. Voraussetzungen werden mit Folgen verwechselt, das Ziel mit dem Weg. Da glaubt man, das Vorhandene und Überlieferte ignorieren zu müssen und tritt alle Praxis und Erfahrungsphilosophie mit Füßen. Da weigert man sich, die Realität anzuerkennen und sieht Probleme niemals bei sich selbst, sondern immer bei noch zu wenigen und zu wenig intensiven „Reformen“. Das ist nicht Bosheit oder Aggression, sondern schiere Dummheit.
Darüber sehr viel nachdenkend, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß der Wohlstand ursächlich an dieser Entwicklung beteiligt sein könnte mitsamt der Tatsache, daß Menschen den Produktionsprozeß nur noch aus einem schmalen Blickwinkel erleben. Die Arbeitsteilung hat der Menschheit zwar den großen, wunderbaren wirtschaftlichen Aufschwung beschert, doch zeigt sich auch die Negativbilanz, und zwar in einem Mangel an Erkenntnis der naturgegebenen Zusammenhänge. Der Mensch verliert die Achtung vor der Schöpfung, weil er deren überwältigende Macht nicht mehr am eigenen Leibe verspürt. Die Technik und die Arbeitsteilung verführen ihn zu einer Art Mach- und Größenwahn. Wo Demut angebracht wäre, breiten sich Hoffärtigkeit und Allmächtigkeitsgefühl aus. Im Glauben an ständigen Fortschritt setzen sie auf Veränderung und willkürliche Verbesserungsversuche selbst von Geschlecht und Klima. Man möge das hier Gesagte nicht in die Schublade der „Religion“ werfen und sagen, dies sei überkommen: Religion ist letztlich die Weisheit der Vorfahren, mit der sie erkennen, daß das Leben letztlich nicht vom Menschen bestimmt werden kann und daß dieser gut daran tut, diese Tatsache anzuerkennen und sich nach ihr zu richten. Sich nach ihr zu richten – nicht umgekehrt! Dies ist auch die Wurzel für den Dekalog, dessen Aussagen in allen Religionen wiederkehren – nicht ohne Grund.

Und hier nun ist das Elend der Reformitis zu verorten: der Mensch glaubt, daß Reformen gut und wichtig sind. Daß die Situation auf Erden entscheidend verbessert werden kann, wenn er, der Mensch, dies entscheidet. Daß man in die Zukunft schauen kann und meint, mit „guten“ Reformen den Massen weiterzuhelfen, weshalb man sie zu ihrem Glück zwingen müsse. Wo selbst vor Gewalt nicht mehr zurückgescheut wird, um Änderungen durchzusetzen. Die meisten Reformer handeln aus Wohlmeinen und haben ein gutes Gewissen. Ihre Projekte kleiden sie in „gute“ Wörter, gegen die man nicht streiten kann. Wären sie doch einfach nur böse! Wir könnten uns dann gegen sie wehren.

Fehlender Weitsicht aus der Zersplitterung und Expertisierung des Lebens erzeugt gefährliche historische Blindheit, Infantilisierung und religiöse Entwurzelung, woraus bei einigen Mitgliedern dieser Gesellschaft eine krankhafte Selbstüberschätzung erwachsen ist. Sie glauben sich berufen und fähig, etwas so Kompliziertes wie das Leben selbst punktuell verbessern zu können. Versuche in diese Richtung erleben wir ja ständig in allen gesellschaftlichen Belangen. Und die Politik stützt diese Unternehmungen. Lernen wird die Menschheit wohl wieder einmal nur aus schmerzhaften Ereignissen. Mahnende Stimmen verwehen. So war es immer.


Kommentar von Heinz Erich Stiene, verfaßt am 07.03.2009 um 23.14 Uhr

Die Rechtschreibreform ist eine Spezies der Reformsucht als einer politischen Ideologie. "Tugendhaft ist heute, wer Reformbereitschaft signalisiert, einem Laster ist verfallen, wer Reformen verweigert." So der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann in seinem glänzend geschriebenen Buch "Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft", München (Piper) 2008. Den Reformern geht es darum, "institutionelle Rahmenbedingungen, die, wie recht und schlecht auch immer, funktioniert haben, nicht zu verbessern, sondern zu destabilisieren." Und weiter: "Reformen verlaufen deshalb nie im Sand, sondern sind dann am erfolgreichsten, wenn sie das vielbeklagte Chaos erreicht haben. Denn ein hauptsächlicher Sinn aller Reformen besteht darin, bestehende Rechtsverhältnisse aufzulösen, altmodische Verträge durch moderne 'Vereinbarungen' zu ersetzen, aus öffentlichen Institutionen, wie gut auch immer sie funktioniert haben mögen, eine Spielwiese für Interessensgruppen, Agenturen, Klüngel und Investoren zu schaffen." Die Rechtschreibreform als Segment des "besinnungslosen Immerweiters" behandelt Liessmann auf den Seiten 166 bis 168. "Der Reformfanatiker will die permanente Reform."
Das Buch kostet nur 7,95 Euro und ist selbstverständlich in guter Orthographie verfaßt. Unbedingt lesenswert!
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